Identität und Suggestion: Der Widerschein
Ferdinand Meerten, ein Waisenkind geboren im 18. Jahrhundert in den
Niederlanden, besitzt ein außergewöhnliches künstlerisches Talent. Der Junge
selbst ist still, nahezu unsichtbar, doch sein Talent kann niemand vergessen,
der einmal eines seiner Bilder gesehen hat.
Ferdinands überragendes Talent als Künstler fällt als erstem dem
Pfarrer auf, in dessen Obhut er gegeben wurde. Hypnotisch sind die
Kohlezeichnungen des Jungen, so inspirierend, dass der Pfarrer wieder beginnt,
sein eigenes unvollendetes Bild der Gottesmutter Maria weiterzumalen. Der Junge
aber, Ferdinand, soll bei dem mittelmäßigen Maler Bros in die Lehre gehen. Doch
Ferdinand hat vor seiner Abreise noch ein weiteres Bild vollendet: das
Marienbild des Pfarrers. Schöner, naturalistischer, unheimlicher als der
Pfarrer selbst es je vermocht hätte. Der Anblick raubt ihm den Verstand und das
Leben. Auch der Maler Bros entdeckt Ferdinands Talent und macht es sich auf
seine Art zu nutzen, indem er Ferdinands Bilder als seine eigenen ausgibt. Der
Erfolg lässt nicht lange auf sich warten, aber ob Ferdinand Bros nur Glück
bringen wird, wird sich noch zeigen. Die Bilder des Malers Bros werden weithin berühmt
und erregen auch die Aufmerksamkeit des Kunsthändlers Gerlach. Dieser kann nicht
glauben, dass Bros nahezu über Nacht so ein meisterhafter Künstler geworden ist.
So macht Gerlach sich auf die Suche nach dem Ursprung der fesselnden, magischen
Kunst Ferdinands - und nach Ferdinand selbst.
Ein äußerst spannender wie bildgewaltiger historischer (Kunstwerk-)Roman
ist David Schönherr mit seinem Debüt „Der Widerschein“ gelungen.
Der Protagonist Ferdinand Meerten erinnert dabei in seiner
schattenhaften Präsenz, seiner Unsichtbarkeit (welche manche Leser
fälschlicherweise als zu wenig ausgearbeiteten Charakter verstanden) stets an
Patrick Süskinds Jean-Baptiste Grenouille. Ferdinand ist absichtlich nicht im
Zentrum des Geschehens, er ist zwar die Figur, um welche sich die Handlung
dreht, doch er ist keinesfalls der Erzähler. Diese Position gibt der Autor den
wechselnden Perspektiven des Pfarrers Hobrecht, des Malers Bros (etc.) und
immer wieder dem Kunsthändler Gerlach. Dadurch kann Ferdinand der
unpersönliche, charakterlose, unheimliche Schatten bleiben, der er zu sein hat
- denn ebenso wie bei Süskinds „Das Parfum“ geht es nicht nur um das
unwahrscheinliche, hypnotische Talent, das jeden ins Unglück stürzt, der mit
Ferdinand in Berührung kommt, ein zentrales Thema des Romans ist der Verlust
bzw. das Nicht-Vorhandensein einer Identität. Ferdinand verkörpert dieses moderne
literarische Thema ebenso wie Jean-Baptiste Grenouille. Im Gegensatz zu
Grenouille wird Ferdinand jedoch nie zum Mörder, er bleibt das verschwommene
Licht am Rande, dem alle aus selbstsüchtigen Motiven wie Motten hinterherjagen,
nur um in der Flamme seiner Kunst zu vergehen.
Unwahrscheinlich mitreißend schildert David Schönherr Ferdinands
Odyssee - von Hand zu Hand immer weitergereicht, nur um die egoistischen Motive
des jeweiligen „Besitzers“ zu befriedigen.
Der Titel „Der Widerschein“ wirft dabei ein Licht auf den Effekt von
Ferdinands Kunst. Einerseits spiegelt sich die Wirklichkeit in seinen Bildern
so exakt wieder, dass es unheimlich und hypnotisch auf alle Betrachter wirkt
und nicht nur einem den Verstand raubt; anderseits wirft sie aber auch das
zurück, was der Charakter des Betrachters auf sie projiziert - so kann
denjenigen nur Unheil wiederfahren, welche Ferdinand ob seines Genies ausnutzen
wollen, denn ihr eigener schlechter Charakter ist es, der ihr Schicksal
besiegelt.
Ferdinand ist ein künstlerisches Genie, das in die falsche Epoche
hineingeboren wurde. Das Goldene Zeitalter der Niederlande ist bereits vorüber,
er lebt in einer Zeit des Verfalls und des Niedergangs - einer Zeit, in der sein
übermenschliches Talent, seine enorm suggestive Kunst nur das Schlechteste in
seinen Mitmenschen zu Tage bringt.
Ein ausgesprochen spannendes Spiel mit dem Begriff der
Identitätslosigkeit, den Nebeneffekten großen Genies und nicht zuletzt eines
Landes, welches seine glanzvolle Epoche bereits hinter sich gelassen hat.
Der Widerschein
von David Schönherr
2013 Frankfurter Verlagsanstalt
ISBN 978-3-627-00195-7
Interesse? Hier geht es direkt zur Verlagsseite (man muss allerdings
noch unter dem Autor nach dem Buch suchen …):
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