Zarteste Melancholie: Unsere große Verzweiflung
Çetin und Ender sind schon seit ihrer Schulzeit eng befreundet, ihre
Freundschaft ist ausschließlich und unkonventionell in ihrer Intensität.
Als ihr gemeinsamer Freund Frikret, der mittlerweile in Amerika lebt,
bei einem Besuch in Ankara die Eltern in einem tragischen Unfall verliert,
bittet er seine besten Freunde darum, sich um seine kleine Schwester Nihal zu
kümmern und sie bei sich aufzunehmen. Nihal hat in Ankara gerade erst ihr
Studium begonnen und braucht lange, um sich an die neuen Umstände anzupassen. Langsam gewöhnt sie sich jedoch an ihr neues Leben mit den beiden
Männern mittleren Alters, welche ihr nun zugleich als große Brüder und
Elternersatz durch ihr Studium helfen sollen. Je mehr Nihal gegenüber dem
romantischen Übersetzer Ender und dessen besten Freund Çetin auftaut, desto
komplizierter wird die Dreiecksgeschichte.
Beide Männer, von der Liebe enttäuscht, beginnen rasch eine zarte
Hingezogenheit zur jungen Nihal zu empfinden, welche sich bald nicht mehr als
reine väterliche oder brüderliche Zuneigung abtun lässt.
"Und die Sterne am Himmel warteten darauf, von einem Betrunkenen
auf die Erde geholt zu werden. Die Sterne strichen uns um die Beine,
Çetin."
Barış Bıçakçıs großartiger Roman „Unsere große Verzweiflung“ erzählt berührend
von unerwiderter Liebe und einer außergewöhnlichen Männerfreundschaft. Mit sanfter Hand und lyrischer Prosa lässt Barış Bıçakçı seinen
Protagonisten Ender Jahre nach Nihals Weggang das Geschehene für seinen Freund
Çetin nochmals schildern, um damit abzuschließen und ihm ein letztes Mal seine
Sicht der Ereignisse zu schildern.
Ender ist der gebildetere, wortgewandtere der beiden Freunde,
allerdings ist er auch der Vergeistigtere; Çetin hingegen war nie ein Mann
großer Worte, aber glänzt dafür mit seinem zuweilen kindlichen Charme und
seiner praktischen Veranlagung.
Nach vielen Jahren der Trennung durch Studium und Arbeit Çetins in
Istanbul und Umgebung, sind er und sein Freund Ender, zwei Seiten einer Münze
gleichend, endlich wieder zusammen in Ankara, der Stadt ihrer Kindheit. Dort führen
sie ein beschauliches, aber genussvolles gemeinsames Leben. Glück in der Liebe
hatten beide nie, Enders letzte Beziehung zu einer verheirateten Frau bereitete
ihm mehr Schuldgefühle als Vergnügen und der aufbrausende Çetin passte sich
stets, zum Unmut Enders, zu sehr den Ansichten seinen Freundinnen, aber nahm
dennoch stets Anstoß an ihn störenden Kleinigkeiten.
Die junge Nihal, welche sie beide seit ihrer Geburt kannten, waren sie
doch mit ihrem älteren Bruder Fikret auf einer Schule und auch gut befreundet -
nie jedoch so stark wie ihre Beziehung zueinander - wirbelt nun ihr ruhiges,
ausgeglichenes Leben durcheinander.
Ender und Çetin geben ihr Bestes, Nihal die optimale Umgebung voller
Zuneigung und Verständnis zu bieten, um mit dem Verlust ihrer Eltern umzugehen
und ihr Studium weiterzuführen. Tatsächlich taut Nihal ihnen gegenüber langsam
auf: Mit Ender verbringt sie die Nachmittage, lässt sich seine und Çetins
Geschichte von ihm erzählen, leiht sich Bücher von ihm und verdreht ihm dabei
unbemerkt immer stärker den Kopf. Ender ist aber nicht allein mit seiner
Verliebtheit, auch Çetin verfällt Nihals jugendlicher Schönheit und ihrem
kindlichen Charme. In praktischen Angelegenheiten des alltäglichen Lebens ist
stets er ihr erster Ansprechpartner. Nihal scheint sich ihrer Wirkung auf beide
zuweilen gar nicht bewusst zu sein, die
Verwirrung, in die sie die beiden Freunde stürzt, bleibt von ihr unentdeckt. Als sie ihren Bruder besucht, sprechen Çetin und Ender erstmals das
bisher streng gemiedene Thema Nihal an, entdecken ihre geteilte Verliebtheit
und beschließen, sich und ihre Gefühle zurückzuhalten. Dass beide bei Nihal von Anfang an keine Chance hatten, müssen die
beiden Freunde jedoch allzu spät erfahren.
Selten liest man eine solch sanft leuchtende Prosa, wattig weich und
dennoch von solch süßer Melancholie durchzogen, wie Barış Bıçakçı Ender seine
Geschichte in „Unsere große Verzweiflung“ erzählen lässt. Die Verzweiflung ob der unerwiderten Liebe, ob der Verwirrung und noch
stärker, ob dem Verlust der Kindheit, durchzieht den gesamten Roman. Ender
wechselt dabei häufig in den verschiedenen Kapiteln zwischen der Zeit mit Nihal
und seiner und Çetins gemeinsamer Vergangenheit, und schafft so ein
schillerndes Panorama ihrer besonders engen Männerfreundschaft, in der der eine
nicht ohne den anderen leben kann. Nihal bringt all das durcheinander, in ihrer
Verschlossenheit versäumt sie es oder sich weigert sich zu bemerken, dass sich
beide Freunde in sie verliebt haben.
„Unsere große Verzweiflung“ ist ein liebevoller, melancholischer Roman
über den Verlust des Kindlichen, über eine zarten Verliebtheit und einer
freundschaftlichen Liebe, stärker als alle Enttäuschungen des Lebens.
Unsere große Verzweiflung (orig. Bizim
Büyük Çarasizliğimiz)
von Barış Bıçakçı
2012 binooki
ISBN 978-3-943562-05-7
Interesse? Hier geht es direkt zum Buch auf der Verlagsseite (dort
findet ihr auch eine Leseprobe des Romans):
Hier geht es dann noch zum Trailer der Filmadaption von 2011:
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