Erwartungen enttäuscht: Neverwhere
Richard Mayhew wird wider Willen aus seinem
durchschnittlichen, aber doch recht komfortablen, Leben in London
herausgerissen, als er auf der Straße ein verletztes junges Mädchen findet.
Seine Verlobte möchte die offensichtlich Hilfsbedürftige zurücklassen, wartet
doch ein wichtiges Arbeitsessen auf die beiden. Richard jedoch trifft die
folgenschwere Entscheidung nicht wegzusehen und das Mädchen mit dem Namen Door
mit zu sich nach Hause zu nehmen und sich um sie zu kümmern. Dass er damit sein
eigenes Verschwinden und zwei blutrünstige Sadisten, die auf der Jagd nach Door
sind, heraufbeschwört, wird Richard schon bald allzu klar. In sein altes Leben
kann er nicht mehr zurück. Es bleibt ihm nur Door in das andere London, London below, zu folgen und auf ein
Wunder zu hoffen. Oder eine himmlische Macht. Ein Engel wäre doch hervorragend
...
„You’ve a good heart. Sometimes that’s enough to see
you safe wherever you go.
But mostly, it’s not.”
Vorweg muss ich sagen, dass ich „The Ocean at the End of the Lane“ schlichtweg großartig fand, „The Graveyard Book“ hingegen eher mäßig und mit „American Gods“ kämpfe ich bis zum heutigen Tag. Dennoch wollte ich mir Neil Gaimans Favorit unter seinen eigenen Romanen doch einmal genauer ansehen, wenn auch die Bilanz der Werke, welche ich bisher von ihm gelesen hatte, nicht unbedingt vielversprechend ist.
Leider war auch „Neverwhere“ (im Deutschen als
„Niemalsland“ erschienen) nicht der Gaiman, der mich endgültig von ihm
überzeugen konnte.
Die Figuren – damsel in distress, aber mit großen,
einzigartigen Fähigkeiten; der unfreiwillige Held, der in das Ganze wider
Willen hineingezogen wird; die beiden sadistischen Auftragskiller; der
Selfmade-Schurke, der doch nicht nur seine eigene Agenda verfolgt; und so
weiter, und so weiter – konnten mir leider nicht das an Tiefe bieten, was das
Setting oder der Plot erfordert hätte. Da schreibt er schon von einem London
unter unserem, dem realen London. Einem London, das von Magie, Phantasie und
deren Abgründen nur so strotzt, belässt es aber bei stereotypen Charakteren,
die er auf eine nicht minder vielfach dagewesene „abenteuerliche“ Suche
schickt. Das soll nicht heißen, dass mir nichts an „Neverwhere“ gefallen hat,
so ist es nun auch nicht. Wenn der Plot erst mal in Schwung gerät und man mit
dem unfreiwilligen Protagonisten Richard in das andere London hinabsteigt,
genau dann glänzt Gaiman mit seinen höchst gekonnten, magisch-realistischen
Beschreibungen dieser Welt, welche unserer so ähnlich ist, aber deren Abgründe
umso greifbarer sind. Eine Welt, in der Albträume Wahrheit sind, Gewalt
alltäglich, Elend überall und Traum und Realität verschwimmen. Genau Gaimans
Themen also – da funktioniert das Ganze auch hervorragend. Die Episoden mit den
sinnfrei brutalen – möglicherweise zeitreisenden? – und definitiv mehr als
menschlichen Auftragsmördern mit ihrem erbaulichen Sinn für Zerstörung (und
Humorlosigkeit) waren immer wieder eine willkommene, da absolut drastisch
trocken geschilderte, Abwechslung und daher ein Highlight unter den sonst allzu
blassen Figuren. In der illustrierten Ausgabe sind außerdem die Grafiken von
Chris Riddell unfassbar treffend und ein Augenschmaus für jeden Kunstaffinen.
Die müden Plottwists, die Gaiman meinte einbauen
zu müssen, ebenso wie Seiten wechselnde Charaktere, all das ist viel zu
vorhersehbar. Auch das gezwungen offene Ende, all die angeschnittenen Fragen
und bewusst nicht zufriedenstellenden Erklärungen halten keine Überraschungen
bereit. Schade im Grunde, mit dieser wunderbar-gruseligen Welt des London below hätte man so viel mehr
erzählen können – erst recht, wenn man in Gaimans Vorwort liest, wie oft er
„Neverwhere“ umgeschrieben und erweitert hat. Leider hat das das Gesamtergebnis
nicht signifikant verbessert.
Neverwhere (Illustrated Edition)
von Neil Gaiman
2016 William Morrow
ISBN 978-0-0628-2133-1
Hier
geht es zur Illustrated Edition:
Auf
Deutsch findet ihr „Niemalsland“, wie alle Gaiman Titel, bei Bastei Lübbe:
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