Was bleibt: Letztes Lied einer vergangenen Welt
Wir lauschen einer Kassette, einem Hörspiel,
bestehend aus neun Stories. Es beginnt auf Seite A mit „Der Leopard“, die in
den 1930er Jahren vom Künstler und Zensor Roman Markin unter Stalin handelt. Er
ist der Beste seines Fachs, so gut, dass sogar Stalin selbst ihn für seine
Kunstfertigkeit im Retuschieren seiner Wangen bewundert. Tag für Tag löscht er
jede Erinnerung an unliebsame Staatsfeinde aus. Als er jedoch eine Ballerina
aus einem Photo herausretuschieren soll, begeht er einen folgenschweren Fehler
und belässt ihre Hand unretuschiert.
Vom Schicksal ebenjener Primaballerina in einem
Gulag und Jahre später von ihrer Enkelin, die ihrer Großmutter in ihrer
Schönheit um nichts nachsteht, liest man in anderen Geschichten. Auch ein
Landschaftsgemälde, in das der Retuscheur Markin einen Parteifunktionär
hineinmalte, taucht wiederholt auf und verbindet die tragischen Einzelschicksale
miteinander. Auf diesem Hörspiel, dieser Kassette, wird das Leben der Menschen
in der Sowjetunion bis hin zum heutigen Russland erzählt – Einzelschicksale,
welche doch in ihrer Gesamtheit ein reiches Porträt eines Landes und dreier
Generationen schaffen.
„Ich
zählte von zehn herunter, und Kolja summte die Nationalhymne.
Manchmal
presste er meine Hand an seine Brust, und wenn sein Herzschlag
an meiner Hand pochte, fühlte sich das weniger als Teil unseres Spiels
an meiner Hand pochte, fühlte sich das weniger als Teil unseres Spiels
und mehr als Probe für ein letztes Lebewohl
an.
‚Du wirst
den letzten Gedanken eines Menschen denken’, flüsterte ich.
‚Du wirst
dieser Gedanke sein’, sagte er. ‚Du wirst das letzte Wort haben.’
‚Dein Name
wird das letzte Wort sein.’“
Anthony Marras „Letztes Lied einer vergangenen
Welt“ wird als Stories, doch in ihrem Detailreichtum und auf Grund ihrer
vielfältigen inhaltlichen und formalen Zusammenhänge, würde ich dieses
grandiose Stück Literatur eher als einen Roman in Kurzgeschichten bezeichnen.
In neun Geschichten, die jeweils aus verschiedenen
Perspektiven und zu unterschiedlichen Zeiten erzählt werden, folgen wir den
scheinbar willkürlich gewählten Schicksalen von Personen aus der sibirischen
Stadt Kirowsk und aus Tschetschenien. Einige der Protagonisten kennen sich, die
Verbindung anderer wird jedoch erst auf den zweiten Blick klar. Subtil sind die
größeren historischen und persönlichen Zusammenhänge mittels weniger Worte
angedeutet, aus den einzelnen Stories entwickelt sich so Stück für Stück das
vielfältige Porträt eines Landes im Wandel der Geschichte und seiner von ihrer
Zeit geprägten, zerrissenen Generationen.
Marra gelingt es, mit jeder Geschichte einen
anderen Blickwinkel auf das Leben im historischen und heutigen Russland und dem
Kaukasus zu werfen. Leben unter Diktatur, Krieg und als Durchschnittsbürger
sind dabei ebenso vertreten wie das der wirtschaftlichen Oberschicht. Jede
Geschichte ist dabei von einer eigenen Stimmung getragen und ist beileibe keine
für sich stehende, abgeschlossene Erzählung. Die neun Stories fließen so
nahtlos ineinander, wie die Leben ihrer Protagonisten untrennbar miteinander
verstrickt sind. Dabei findet der Autor dennoch jedes Mal einen eigenen Ton,
welcher stets von einer leichten Note der Melancholie getragen wird. Marras
Prosa ist erschreckend emotional und zugleich bedrückend distanziert und
zuweilen unerträglich sachlich – sein Erzählstil passt sich seinen Protagonisten
an. Bedrückend fühlen sich seine Geschichten an, in manchen spürt man die
Verzweiflung und Last der Erinnerung an verlorene Menschen mehr, während in
anderen die Hoffnung und der Wunsch nach Zukunft überwiegt. Selten macht einen
das Schicksal von Romanfiguren so betroffen wie in Marras leichtfüßiger Prosa.
Es gelingt dem Autor, die emotionalen und politischen Verwicklungen einer
Nation und ihrer Bürger über Jahrzehnte hinweg authentisch und zugleich
kunstvoll miteinander zu verweben und so ein farbintensives Mosaik der
Erinnerungen zu schaffen.
Ein wunderbares, episches Stück Literatur, das mich
lange nicht loslassen wird!
***Der Hintergrund des obigen Photos ist ein
Ausschnitt aus Stefan Müllers Werk „Dipl. Phys. Joseph Erb“ von 2009.***
Letztes Lied einer vergangenen Welt. Stories (orig.
The Tsar of Love and Techno)
von Anthony Marra
2016 Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-51842534-3
Interesse?
Hier geht es zum Buch auf der Verlagsseite (dort findet sich auch ein Video mit
einer Lesung Marras):
http://www.suhrkamp.de/buecher/letztes_lied_einer_vergangenen_welt-anthony_marra_42534.html
Oder doch lieber im englischen Original lesen?
http://www.penguinrandomhouse.com/books/220154/the-tsar-of-love-and-techno-by-anthony-marra/
Oder doch lieber im englischen Original lesen?
http://www.penguinrandomhouse.com/books/220154/the-tsar-of-love-and-techno-by-anthony-marra/
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