Vergebliche Hoffnungen und Lebenslügen: Das Blütenstaubzimmer
Jo besucht nach ihrem Abitur ihre Mutter Lucy, die sie zwölf Jahre
lang nicht gesehen hat. Lucy lebt mit ihrem neuen Mann Alois, einem Maler, in
einem abgeschiedenen Haus in einem Land im Süden. Von ihrer Reise erhofft sich Jo ihre lange vermisste Mutter endlich
kennenzulernen und nun eine richtige Mutter-Tochter-Beziehung zu ihr
aufzubauen. Stattdessen bleibt Lucy ihr fremd. Als Alois kurz nach Jos Ankunft
in einem tödlichen Verkehrsunfall stirbt, zieht Lucy sich völlig in dessen
Atelier zurück. Sie sammelt Blütenstaub, den sie im Raum verteilt, verkriecht
sich darin und verschließt vor Jo und dem Rest der Welt die Türen. Jo versucht
alles, um zu ihr durchzudringen, dch ihre Mutter gibt keinerlei Lebenszeichen
von sich. Letztlich schafft sie es zwar, Lucy aus ihrer katatonischen Starre zu
lösen, aber indem sie jegliche Erinnerung an Alois vernichtet, versucht Lucy
weiterzuleben, als sei nichts geschehen. Jo beobachtet sie dabei ebenso fassungs- wie teilnahmslos. Jeder
Versuch, der Mutter nahe zu kommen, bleibt vergeblich. Als diese mit einem
neuen Mann unangekündigt zu einer Reise aufbricht, bleibt Jo allein in Alois
Haus zurück. Auf sich allein zurückgeworfen in einem fremden Land versucht sie
zögerlich, Kontakt zu anderen zu knüpfen.
Zoë Jennys Roman „Das Blütenstaubzimmer“, für welchen sie mit dem
aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet wurde, taucht der Leser in kurzen Episoden
ein in Jos Gedanken- und Gefühlswelt. Beides gestaltet sich dabei wirr und
verloren, Erinnerungen wechseln sich dabei mit der Gegenwart und Träumen und
Gedanken ab.
Jo ist verloren, bei ihrem Vater ebenso wie bei ihrer Mutter. Beide
haben wenig Interesse und Aufmerksamkeit für ihre Tochter, Jos Vater hat
mittlerweile eine neue Familie, während Lucy zunächst auf Alois fixiert ist und
ihre eigene Tochter später als ihre Schwester ausgibt. Dabei sucht Jo nur eine
Bezugsperson, jemanden, der sich um sie bemüht und sich für sie interessiert,
an ihrem Leben teilhaben möchte. Lucy aber bleibt distanziert, gefangen in
ihren eigenen Lebenslügen. Sie redet kaum mit ihrer eigenen Tochter, die sie
Jahre lang nicht gesehen hat, zeigt keinerlei Interesse daran, sie auch nur
kennen zu lernen, zu sehr ist sie mit sich selbst und dem Verdrängen von Alois
Tod beschäftigt. Jo versucht immer wieder, in kleinen Gesten und
Gesprächsanläufen, die Aufmerksamkeit ihrer Mutter zu wecken, einer Mutter, die
es vorzieht, sie als ihre Schwester auszugeben, um attraktiver und jünger auf
ihren neuen Freund zu wirken. Jo realisiert erst spät, als Lucy bereits
verschwunden ist und sie kommentarlos zurückgelassen hat, dass ihre Hoffnung
von Beginn an utopisch war und ihre Mutter tatsächlich keinerlei Interesse an
ihr oder gar einer Beziehung mit ihr hat. Zu sehr ist sie mit ihrem eigenen
Leben und ihren Selbsttäuschungen beschäftigt. Da dies aber Jos einziger Plan war für die Zeit nach dem Abitur und
vor einem Studium, über welches sie sich ebenfalls noch keine Gedanken gemacht
hat, bleibt sie perspektivlos zurück. Sie irrt durch die Stadt, um sich
abzulenken und lernt dabei Rea kennen, die wie sie genug von ihren Eltern hat
und mit der sie nach Milwaukee reisen will. Doch die rasche Annäherung der
beiden ist nicht das, was Jo darin sieht, für Rea ist Jo nur ein weiterer
Zeitvertreib, eine Ablenkung. Desillusioniert muss Jo auch hier ihren Fehler erkennen und sie kehrt
schließlich ihrer Vergangenheit und ihren Eltern den Rücken.
„Das Blütenstaubzimmer“ ist der Roman einer Generation, der sowohl die
Bezugspersonen als auch der individuelle Lebenssinn abhandengekommen sind. Jos
verzweifelte Suche nach Zuwendung, welche sie zugleich jedoch durch Kälte und
Schweigen von sich fern hält, erweist sich als zum Scheitern verurteilt. Ohne
Perspektive, Träume und Wünsche für ihr eigenes Leben, schafft sie es am Ende
des Romans zumindest, sich von ihren desinteressierten Eltern, beziehungsweise
ihrer Vorstellung von ihnen, zu lösen und in ein eigenes Leben, das nicht auf
ihnen aufgebaut ist oder von ihnen überschattet, wird aufzubrechen. Bedrückend liest sich dieser Roman; Zoë Jennys Sprache ist dabei so
eindringlich wie poetisch, so dass einen die Einsamkeit und Verlorenheit der
Protagonistin kaum wieder loslässt.
Das Blütenstaubzimmer
von Zoë Jenny
1999 btb Verlag
ISBN 978-3-44272383-6
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