Erwartungen enttäuscht: Familie der geflügelten Tiger


Johanna sammelte schon als Kind Landkarten. Das abgebildete Gebiet spielt dabei weniger eine Rolle, ihr geht es mehr um die Vernetzungen, Wege, die historischen Veränderungen, die sich in Stadtbildern niederschlagen. Sie will beruflich etwas Handfestes machen, da verbindet sich Menschen von A nach B zu transportieren wunderbar mit ihrer Leidenschaft für Karten. Ihre liebste Karte ist und bleibt die Ebstorfer Weltkarte, randvoll mit Fabelwesen und unentdeckten Landstrichen. Auch in Johannas Leben existiert solch ein weißer Fleck: ihr Vater. Laut ihrer Mutter hat er ihre kleine Familie kurz vor dem Mauerfall verlassen. Als er nun Jahre später aus heiterem Himmel anruft, weiß Johanna nicht, was sie davon halten soll. Soll sie zurückrufen? Will sie diesen Vater, diesen Jens, überhaupt kennenlernen, nachdem er ihre Jugend und Kindheit über nie da war? Schließlich ringt sie sich zu einem Anruf durch und muss erkennen, dass selbst das wenige, was sie über ihren Vater zu wissen glaubte, ins Wanken gerät. Ungewissheit macht sich breit. Hat er sie damals wirklich freiwillig verlassen oder wurde er von der Stasi verhaftet – welche der Geschichten zu seinem plötzlichen Verschwinden ist wahr und welche Wunschdenken?

„Er liegt im Krankenhaus, sagte sie dann. Er hat Krebs. Im Endstadium.
Ich nahm den Finger vom Ohr. Ich klemmte das Telefon zwischen Schulter
 und Wange und nahm das Feuerzeug vom Nachttisch.
Das klang nicht nach einer besseren Geschichte. Doch zumindest würde
ich keine Zuckertütchen im Café zerpflücken müssen, weil er nicht auftauchte.“

Paula Fürstenbergs Debüt „Familie der geflügelten Tiger“ begeistert mit ihrem poetischen Gefühl für Sprache und einem vielversprechenden Plot. Welche Geschichte über das Verschwinden von Johannas Vater aus der DDR ist wahr? Die der Mutter, laut der er einfach rübergemacht hat in den Westen? Die Version von Johannas Halbschwester, nach der er von der Stasi festgenommen wurde? Oder eine der anderen Geschichten, welche sie im Verlauf des Romans hört? Ist überhaupt etwas davon wahr? Wer ist ihr Vater wirklich, wer war der Mann, den sie sterbend zum ersten Mal im Krankenhaus kennenlernt?
Das alles erzählt Fürstenberg mitreißend und gekonnt mit Hilfe von zwei Erzählsträngen. In der Gegenwart folgen wir Johannas Begegnungen und Gedanken, während immer wieder in dickerer Schreibmaschinenschrift gedruckte Auszüge aus den Stasi-Protokollen über ihren Vater Johannas Erzählung unterbrechen.
„Familie der geflügelten Tiger“ hätte ein wirklich grandioser, literarisch vielseitiger Familienroman sein können, handelt er doch von der Suche nach der eigenen Identität, dem Platz in der Familien- und Landeshistorie, wäre da nicht der Fakt, dass ich mich nicht in Johanna hineinversetzen konnte. Auch das ist im Grunde kein negativer Aspekt, doch in diesem speziellen Fall waren die Handlungen und Entscheidungen der zunehmend obsessiver werdenden Protagonistin absolut nicht nachvollziehbar (und zwar auf einer absurd werdenden Skala), weshalb der gesamte Roman für mich an Glaubhaftigkeit verlor. Schade, denn Paula Fürstenberg ist eine vielversprechende, deutschsprachige Autorin, das steht außer Frage. Ich bin auch schon gespannt auf neue Bücher von ihr – nur mit ihrem Debüt konnte ich mich einfach nicht anfreunden.

Familie der geflügelten Tiger
von Paula Fürstenberg
2016 Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-04875-9
 
Interesse? Hier geht es zum Buch auf der Verlagsseite:

Hier findet ihr noch das Video einer Autorenlesung von „Familie der geflügelten Tiger“:

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