Eine schicksalhafte Nacht: In Almas Augen


Ein kleines Städtchen in der Nähe von St. Louis in Missouri. Es ist der Sommer 1929, alles geht seinen geregelten Gang, kleine Heimlichkeiten mit eingeschlossen. Alma DeGeer Dunahew arbeitet als Hausmädchen für die Familie Glencross, eine der reichsten Familien der Stadt. Mr Arthur Glencross, Direktor der hiesigen Bank und eine angesehene Persönlichkeit, bezahlt gut und hat eine Schwäche für Almas ebenso schöne wie kokette Schwester Ruby, die gerne von Männern angeschmachtet wird und sich als reichlich beschenkte Liebhaberin der Wohlhabenden ihren Lebensunterhalt zusammenschustert. Aber mit Mr Glencross ist es etwas anderes, obwohl dieser nie seine wohlhabende Ehefrau verlassen würde, liegt ihm viel an Ruby, mehr als ihm lieb ist. 
Bei einer Tanzveranstaltung kommt es eines Nachts zu einer zerstörerischen Explosion, die 42 der Tanzenden das Leben kostet. Unter ihnen ist auch Ruby. Alma glaubt die wahren Hintergründe und Verantwortlichen des Unglücks zu kennen, ein Unfall ist ihrer Meinung nach ausgeschlossen. Erst viele Jahre später enthüllt sie ihre Version der Geschehnisse dieser Nacht. 
   
"Alma DeGeer Dunahew war mit ihrer verkniffenen, feindlichen Natur, 
ihren dunklen Obsessionen und ihrem grundlegenden Verlangen nach Rache 
das große rote Herz unserer Familie, das wir geheim hielten und das uns Kraft gab."
 
In seinem aktuellen Roman „In Almas Augen“ zeichnet Daniel Woodrell das treffende Portrait einer amerikanischen Kleinstadt des letzten Jahrhunderts, ihres vielfältigen Lebens mit all den wohlgehüteten Geheimnisse und seelischen Abgründen, welche hinter der rechtschaffenen Fassade lauern.
Almas Geschichte, die Geschichte ihrer Kleinstadt, wird von ihrem Enkel retrospektiv erzählt. Stück für Stück erfährt er durch seine Besuche bei Alma und Andeutungen seines Vaters von dem Unglück des Jahres 1929, das so viele, auch Almas geliebte Schwester Ruby, das Leben kostete. 
In kurzen Kapiteln widmet sich der Erzähler den verschiedenen Persönlichkeiten der Stadt, ihren Gewohnheiten, verschwiegenen Vergangenheiten und immer wieder ihrem Ende - ob nun in dieser Nacht 1929, oder später. Meisterhaft verknüpft Woodrell die zahlreichen Erzählstränge und Schicksale, welche sich alle in der Nacht des Unglücks kumulieren. Dabei kommt er stets auf Almas Familie, die Dunahews, zurück. Ganz am unteren Ende der Gesellschaft standen die Dunahews und die DeGeers, beide Familien mittellos, die Männer dem Alkohol ein wenig zu sehr zugetan. Buster Dunahew wurde als stadtbekannter Säufer von seiner eigenen Frau Alma aus der gemeinsamen baufälligen Hütte, die sie Zuhause nannten, verstoßen. Durch die Affäre seiner Schwägerin Ruby mit Arthur Glencross, konnte er sich jedoch als dessen Fahrer seinen Unterhalt verdienen. Obgleich Alma das Bedürfnis ihrer Schwester nach männlicher Aufmerksamkeit verstand, konnte sie es dennoch nicht gut heißen. Sie selbst profitierte finanziell von der Affäre ihrer Schwester und ihrer eigenen Verschwiegenheit, die Arthur Glencross ein Leben voller Überfluss garantierten.
Zur Explosion gab es zahlreiche Theorien, mindestens ebenso viele Verdächtige und sogar einige Geständnisse der Tat. Unvorbereitet traf die Tragödie die kleine Stadt, unvergessen blieb sie als Einschnitt in den Leben der Verwandten der Verstorbenen. Aufgeklärt wurde die Tragödie jedoch nie von der Polizei, die wichtigen Persönlichkeiten der Stadt wussten das zu verhindern. Wen oder was sie dadurch schützen wollten, dessen konnte sich niemand sicher sein. 
Nur Alma, das Hausmädchen der Glencross‘, deutete mit ihrem Finger von Anfang an unbeirrt auf den ihrer Meinung nach Schuldigen. Diese Ehrlichkeit bekam ihr und ihren Söhnen allerdings nicht besonders gut - fortan konnte sie sich in keiner Anstellung lange halten und verlor schließlich zeitweise den Verstand. An ihrer Version der Ereignisse hielt sie dennoch unbeirrt fest. 
Daniel Woodrell schreibt eindringlich und ungemein fesselnd von dem Verlust vieler Seelen, von der Leerstelle, die sie im Leben ihrer Liebsten hinterlassen. Virtuos erschafft er das Portrait einer amerikanischen Kleinstadt, ihrer dunklen Geheimnisse, des Verrats, der zerstörerischen Kraft enttäuschter Liebe und dem Gewicht sozialer Ungleichheit.
Mit „In Almas Augen“ gewann Daniel Woodrell den Heartland Prize, war auf der Shortlist des Los Angeles Times Book Prize und stand fünf Monate lang auf der KrimiZeit-Bestenliste (obgleich es sich kaum um einen Krimi im klassischen Sinne handelt). Ein zu Recht ausgezeichneter Roman über Wunden des Verlusts und Verbrechen, welche selbst von der Zeit nicht geheilt oder vergessen gemacht werden können.

In Almas Augen (orig. The Maid’s Version) 
von Daniel Woodrell 
2015 Wilhelm Heyne Verlag 
ISBN 978-3-453-43791-3
 
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