Drastisch: Eigentlich müssten wir tanzen
Es sollte so werden wie jedes Mal, ihr Wochenende auf der Berghütte im
Tiroler Alpenvorland. Nicht ganz so lustig zwar, nicht so wie die Jahre zuvor,
aber doch vertraut. Die fünf jungen Männer, fünf Kindheitsfreunde, könnten sich
nicht mehr irren: Als sie nach dem erwartet unspektakulären Wochenende in das
Dorf am Fuß des Berges hinabsteigen und in ihre Leben zurückkehren wollen,
müssen sie entsetzt feststellen, dass nichts mehr so ist, wie sie es kannten. In
der kurzen Zeit ihrer Abwesenheit ist von der vertrauten Zivilisation nichts
mehr geblieben. Das Dorf ist verlassen, abgebrannt und geplündert. Nichts weist
darauf hin, was geschehen sein könnte - nur eins ist klar: die Bewohner sind
tot oder haben das Dorf hinter sich gelassen. So beschließen die fünf in ihrer
Sprachlosigkeit, sich zu Fuß auf den Weg zu machen. Zu einem anderen Dorf,
einer Stadt, nach Hause, irgendwohin. Denn vielleicht ist es dort anders, vielleicht
sind dort noch Menschen, Zivilisation, Leben. Sie sind allein, umgeben von
Zerstörung, Leere und Tod.
Wie weit müssen sie gehen, um an ein Ziel zu gelangen? Gibt es
überhaupt noch so etwas wie ein Ziel in dieser postapokalyptischen Welt?
„Wenn die Sonne aufgeht, sehen wir
übereinander hinweg und aneinander vorbei, und wir sehen genau, sehen es aus
dem Augenwinkel, dass der andere auch woanders hinsieht,
wir sehen jeder
woanders hin, jeder in sein eigenes weit entferntes Nichts oder Alles, egal, wir
sehen uns nicht in die Augen, das täte weh, mehr und ganz anders als die Sonne,
(…)“
Bereits in seinem Debütroman „Der beruhigende Klang von explodierendem
Kerosin“ beeindruckte Heinz Helle durch seinen äußerst kühl reduzierten,
poetischen Stil wie seine außergewöhnlich exakten Sprachbilder. „Eigentlich
müssten wir tanzen“, mit dem Helle auf der diesjährigen Longlist des Deutschen
Buchpreises vertreten war, erzählt vom Kräfte zehrenden Weg fünf junger Männer
auf der Suche nach Zivilisation in einer postapokalyptischen Welt.
Radikal und plötzlich auf nichts mehr als sich selbst zurückgeworfen,
versucht die kleine Gruppe sich trotz aller Widrigkeiten in einer Welt, die nur
noch vage an ihre eigene erinnert, zurechtzufinden. Leben wollen sie.
Überleben. Mehr und mehr stellt sich jedoch die Frage, ob es die Zivilisation,
das Bekannte, nach dem sie suchen, überhaupt noch gibt. Alles sonst so
Vertraute wird ihnen fremd, zeigt es doch jetzt in der Stille ein ganz anderes
Gesicht. Sinnentleert harren die Autobahnen, verwüsteten Dörfer und andere
Hinterlassenschaften der Zivilisation ihrem Schicksal. Die Welt hat nicht
aufgehört, sich zu drehen, weil die Menschheit verschwunden ist, im Gegenteil,
die Natur wartet geduldig darauf, sie sich zurückzuerobern.
An geplünderten Supermärkten, verlassenen Häusern und Höfen, scheinbar
sinnloser Verwüstung und Tod kommen die fünf Männer auf ihrem Marsch vorbei.
Mehr und mehr verändern auch sie sich, verfallen in Schweigen und Rohheit. Nichts
ist mehr von Bedeutung außer dem nächsten Stück Weg, das sich vor ihren müden
Augen in die Ferne erstreckt; nichts außer dem quälenden Hunger und dem
Fünkchen Hoffnung, nach dem sie sich sehnen, das sie jedoch nicht mehr so
wirklich aufbringen können. Gefährlich ist es in der neuen, allzu alten Welt,
in der es nichts zu hoffen, nichts zu erwarten gibt. Sie funktionieren, gehen
weiter, werden erfinderisch, so ganz auf sich selbst zurückgeworfen. Aber ist
das noch Leben? Sind sie noch am Leben, nur weil sie überleben? Gibt es in
dieser kargen, brutalen Welt überhaupt noch etwas, für das es sich weiterzuleben
lohnt?
Eine Erklärung für die Apokalypse wird man in Heinz Helles Roman
„Eigentlich müssten wir tanzen“ nicht finden. Es geht ihm in seinem zuweilen
unerträglich sachlich erzählten Roman nicht um Erklärungen, sondern um die
Auswirkungen einer Katastrophe, des Verlustes all dessen, worüber wir uns als
Mensch definieren. Was bleibt von uns, wenn alle Gewissheit und Sicherheit über
Nacht verschwinden? Ebenso drastisch wie analytisch lässt Heinz Helle seinen
Erzähler den Marsch der Gruppe dokumentieren - aber nicht ohne einen Funken
Dramatik, welcher sich besonders in Kontrast zur Emotionslosigkeit und Kargheit
der Sprache entfaltet, schildert er die Verrohung, die verzweifelte,
unabwendbare Sinnentleerung des Seins.
Herausragende Prosa, die den Leser aufrüttelt, schockiert und seinen
gewöhnlichen Komfortzonen mitleidslos entreißt. „Eigentlich müssten wir tanzen“
ist roh, hart und konfrontiert in seiner nüchternen, mit der Handlung zunehmend
jeglicher Emotion entbehrenden Schilderung einer Postapokalypse mit
beunruhigenden existentiellen Fragen rund um das, was uns Menschen und das
Leben ausmacht. Absolut lesenswert!
Eigentlich müssten wir tanzen
von Heinz Helle
2015 Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-42493-3
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