Unrecht, Sünde, Stigma: Kindes Kind
Seit dem
Erbe des großmütterlichen Hauses leben die Geschwister Andrew und Grace
zufrieden zusammen. Eine Haushälfte für jeden und eine gemeinsame Küche – eigentlich
perfekt im schwierigen Londoner Wohnungsmarkt.
Doch als
Andrews neuer Liebhaber James sich als bedeutend mehr als nur eine flüchtige
Affäre herausstellt und immer öfter bei ihnen im Haus bleibt, ist Grace
zunehmend beunruhigt. Dem zwar sehr gut aussehenden, aber auch äußerst
arroganten Schriftsteller kann sie auf Grund seines Verhaltens und seiner
Geringschätzung ihrer noch im Entstehen begriffenen Doktorarbeit über
schwangere Unverheiratete in englischen Romanen nichts abgewinnen.
Es kommt
aber ganz anders als Grace befürchtet – denn ihr Leben und das ihres Bruders
scheint zunehmend beunruhigende Parallelen zum Thema ihrer Dissertation und
einem bisher unveröffentlichten Manuskript aus den 1950er Jahren aufzuweisen.
„Er wusste, dass es Unrecht war, aber er
tat zurzeit so viel Unrechtes,
dass ihm sein Leben wie eine einzige
große Sünde vorkam.
Doch
noch ließ sich etwas dagegen tun (...)“
Barbara
Vines Roman „Kindes Kind“ erzählt eindringlich von der Schande und Sünde, die
im Fin de Siècle wie auch noch heute zuweilen Sexualität anhaftet. In zwei
thematisch und inhaltlich verwobenen Handlungssträngen wird dieselbe
Problematik – Homosexualität und die Schwangerschaft einer unverheirateten Frau
– behandelt. Barbara Vine schafft dabei sehr differenzierte
Charakterdarstellungen ihrer sechs Hauptfiguren, besonders die Binnenhandlung
rund um Maud und John ist psychologisch enorm plastisch geschildert.
Grace
Geschichte, die ihres Bruders Andrew und dessen Liebhaber James, bildet die
Rahmenhandlung des Romans und spielt in der Gegenwart. Obgleich Grace keinerlei
soziale Ächtung und Schande mehr empfinden muss, weil sie unverheiratet
schwanger wird, so stellt ihre Schwangerschaft doch ein Problem auf Grund der
Art der Empfängnis dar. Während sich das soziale Stigma der unverheirateten
Schwangerschaft jedoch über die Jahre gewandelt hat, haben Homosexuelle wie
James und Andrew auch in unserer Zeit noch mit Anfeindungen und körperlicher
Gewalt wegen ihrer sexuellen Orientierung zu kämpfen. So bringt ein solcher
gewalttätiger Angriff auf einen Freund der beiden die Handlung erst ins Rollen.
Der
Roman „Kindes Kind“, der Grace durch einen Freund, den Sohn des Autors,
zukommt, behandelt genau diese Themen, die auch Grace und ihren Bruder
beschäftigen und auf Grund derer der Roman in den 1950er Jahren noch nicht
veröffentlicht werden konnte. John, homosexuell, aber gegen seine Neigung
kämpfend, bietet seiner jüngeren Schwester Maud, nachdem sie unverheiratet
schwanger wird, ein ungewöhnliches Arrangement an: Sie wollen sich als Ehemann
und Ehefrau ausgeben, um so Mauds Tochter Hope Legitimation zu verschaffen und
Maud selbst vor dem gesellschaftlichen Stigma zu bewahren. John entgeht so
zudem den Avancen anderer Frauen und kann, so hofft er zumindest, seiner unheilvollen
Schwäche für den schönen, aber ungebildeten Bertie entfliehen. Das zu Beginn so
perfekt erscheinende Arrangement erweist sich jedoch als problematischer als
erwartet, denn Maud und Bertie halten mehr als nur wenig voneinander. Auch
scheint Berties Zuneigung der Liebe Johns kaum gerecht werden zu können,
während Maud zunehmend gegenüber John eine ähnlich engstirnige und ablehnende
Haltung vertritt wie ihre Eltern ihr gegenüber, als diese sie auf Grund ihrer
Schwangerschaft verstießen.
Mit
Rafinesse und Subtilität lotet Barbara Vine (alias Ruth Rendell) die
psychologischen Abgründe von Verachtung, Hass, Schuld, Sünde und Unrecht der
menschlichen Sexualität aus. So gelingt ihr in „Kindes Kind“ ein
vielschichtiges Gesellschaftsportrait ebenso wie eine gescheiterte Lebens- und
Familiengeschichte.
Kindes Kind (orig. The
Child’s Child)
von
Barbara Vine
2015
Diogenes Verlag
ISBN
978-3-257-06946-4
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Hier geht es zum Buch auf der Verlagsseite:
Hui, das klingt aber sehr spannend. Das würde ich gerne mal lesen. Ich werde es mal auf meine langfristige Leseliste setzen ;)
AntwortenLöschenLG
Hallo liebe Catherine! :)
LöschenDas solltest du wirklich! Ich hatte so viel psychologische Spannung gar nicht erwartet, wurde dann aber mehr als positiv überrascht ;)
glg