Staufisches Mittelalter gegen die Realität des Weltkrieges: Das Sandkorn
1914. Jacob Tolmeyn, seines Zeichens Kunsthistoriker und dritter
Sekretär am Königlich Preußischen Institut in Rom, ist fasziniert von der
Herrschaft Friedrichs II. in Süditalien. Zunächst entsendet man ihn, die
vermeintlichen Kaiserinnengräber in der Domkrypta von Andria zu untersuchen und
zu legitimieren. Als sich dies als Erfolg erweist, soll Jacob seine Forschungen
fortsetzen und die steinernen Zeugnisse von Friedrichs Herrschaft erstmalig
gänzlich untersuchen und photographisch dokumentieren. Immerhin ist Friedrich
II. ein deutscher Kaiser, die kunsthistorische Erforschung desselben gilt es
daher auch wieder in deutsche Hände zu nehmen, gerade in diesen Zeiten. Unversehens aus seinem dunklen Kellerloch im Institut in Rom
herausbefördert, muss er jedoch zunächst ins gefürchtete Berlin zurück, wo ihn
die Schatten seiner Vergangenheit erwarten.
Begleitet wird er auf dieser zweiten Reise ins Staufische Mittelalter
Unteritaliens vom Schweizer Beat, seinem Assistenten, doch auf Grund der sich
zuspitzenden politischen Lage innerhalb Europas müssen sie ihre Forschungen
unterbrechen, gerade als Jacob beginnt, Zuneigung zu seinem schweigsamen
Begleiter zu empfinden. Nach dem Ausbruch des Krieges kann nur eine dritte
Reise sie wieder zusammenbringen - doch dieses Mal ist eine Frau mit von der
Partie.
Es scheint, als sei die Sicherheit der Zeit Friedrichs II. flüchtig,
denn Jacobs Geheimnisse und der Krieg verfolgen ihn bis ins abgelegenen Apulien.
Elegant verknüpft Christoph Poschenrieder in seinem aktuellsten Roman
„Das Sandkorn“, mit welchem er auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2014
stand, Historisches mit Fiktion. Es gelingt ihm dabei mühelos, den Leser in die
Jahre 1914 bis 1916 zu versetzen und die unsichere Zeit an der Schwelle zum
Abgrund der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts durch den Blickwinkel zweier
ungewöhnlicher Erzähler lebendig werden zu lassen.
Durch das Springen zwischen zwei Erzählzeiten, erschließen sich dem
Leser erst nach und nach alle Facetten der Handlung. Einerseits werden durch
Jacob Tolmeyn, dem Protagonisten, die Geschehnisse der Jahre 1914 bis 1916
erzählt, als er sein Verhalten zu rechtfertigen sucht, nachdem er wegen
verdächtigen Verstreuens süditalienischen Sandes in Kriegszeiten in Berlin des
Jahres 1916 auf der Berliner Polizeiwache festgesetzt wird. Hinzu kommt die
Retrospektive des Kommissars Franz von Trepkow in Form von dessen Memoiren,
welcher Jacob zu seinem ebenso zwielichtigen wie absonderlichen Verhalten
vernimmt und dabei seine ganz eigenen Motive verfolgt.
Als Jacob in dessen Fänge gerät, beginnt er zunächst arglos von seiner
Zeit in Süditalien zu berichten; doch Trepkow, einem Spürhund gleich, hat schon
bald eine Fährte gewittert. Erbarmungslos folgt der Kommissar seiner Ahnung,
Jacobs sexuelle Orientierung betreffend, und hofft auf einen offenen
Kriminalfall. Obgleich er Jacob mit keinerlei konkreten Beweisen belasten kann,
versteht Trepkow es meisterhaft, sein Opfer zu verunsichern und dessen
Schuldgefühl für seine Zwecke schamlos auszunutzen. Jacob, der seit der durch
den Krieg zu rasch beendeten dritten Reise zu den Überresten der Herrschaft von
Friedrich II. den Sinn und Zweck seines Daseins vermisst, lässt sich von den erschwindelten
Anschuldigungen Trepkows verunsichern und schließlich zu einer folgenschweren
Entscheidung nötigen.
Als Kunsthistoriker stets außerhalb der Zeit stehend, diese
betrachtend und wertend, ist sich Jacob selbst seiner Identität unsicher - sein
wahres Wesen ständig aus Angst vor Verfolgung (§175) zu verstecken hat seine
Spuren hinterlassen. Der Verlust Beats, beziehungsweise die viel zu spät
geklärte Beziehung der beiden zueinander, stürzt ihn ob der vergeudeten
Möglichkeiten noch mehr in Verzweiflung, als es die Schuld, die er zu tragen
glaubt, ohnehin tut.
Er wählt schließlich in der Konfrontation mit Trepkow den einfachsten
Weg: Er fügt sich in das, was er als sein verdientes Schicksal betrachtet. So wird er es letztlich auch mit seiner zweiten Begegnung mit dem
Treibsand halten - der Mann, der aus der Zeit und den geltenden Normen der
Gesellschaft gefallen war, wird sich als tragische, gescheiterte Figur beugen
und einen hohen Preis dafür bezahlen. Der Sand ist ein Leitmotiv der Romanerzählung, Jacobs Faszination
verweist hierbei auf die Verwandtschaft seiner eigenen Persönlichkeit mit den
kleinen Körnchen, welche er so zwanghaft sammelt.
„Das Sandkorn“ ist eine gelungene Kombination verschiedener Genres, in
der Christoph Poschenrieder die ausdrucksstarke wie tragische Geschichte der
Menschen erzählt, welche ob ihrer Sexualität (oder wie bei Letizia - ihrem
Einsatz für Frauen- und Menschenrechte) Außenseiter in einer Gesellschaft
waren, die in ihrer beschränkten Weltsicht keinerlei Andersartigkeit und
Diversität tolerieren konnte.
Das Sandkorn
von Christoph Poschenrieder
2014 Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-06886-3
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