Alles wie immer: Alles ist jetzt
Ingrid wohnt schon lange nicht mehr bei ihrer
Mutter in der bedrückenden Enge der Vorstadt, geflohen ist sie vor ihr und
ihrer Kindheit. Vor dem Mädchen, das sie war und nie mehr sein wollte. Stattdessen
hat sie jetzt eine Wohnung in der Stadt, in der auch ihr kleinkrimineller
Bruder Gordan Zuflucht gefunden hat. Eine Katze und Ingrids Freundin Jenny sind
neben Ingrids Arbeitskollegen in der Live-Sex-Bar, in der sie kellnert, die
einzigen Lebewesen in ihrem müde dahin plätschernden Leben.
An Weihnachten wird Ingrid von ihrem Bruder abrupt
aus der von ihr jahrelang perfektionierten Gleichgültigkeit gerissen, ein
Weihnachtsbesuch bei der verachteten Mutter soll es sein. Der Besuch bleibt
nicht folgenlos, die Wand, welche Ingrid von der Welt da draußen abschottet,
beginnt zu bröckeln und Erinnerungen an eine lieblose Kindheit zwischen Verlassen
werden und Alkohol werden wach.
„Ingrid
hat Mitleid mit ihm, sie greift nach seiner Hand. Gordan und Ingrid nehmen sich
bei der Hand, sie springen. Das Becken verschluckt sie. Oder: Sie springen und
brechen sich auf dem Grund des Springbads beide Beine, alle vier Beine. (...)
Ingrid ist
müde, unendlich müde.
Natürlich
springen sie nicht. Sie springen nicht und reden nicht, schweigend sitzen sie
am Rand des Schwimmbeckens und rauchen Gras.“
Julia Wolfs Debütroman „Alles ist jetzt“ erzählt
von einer jungen Frau auf der Flucht vor sich selbst. Einer Frau, die doch
immer noch das naive Mädchen geblieben ist, auch wenn sie sich gegen die
Enttäuschungen, den Verrat und das Verlassen werden mit einer undurchdringlichen
Mauer umgeben hat. Eine Mauer aus Gleichgültigkeit, Alkohol und einen Gedanken
und Erinnerungen verstummen lassenden Schlaf trennt sie von ihren Mitmenschen.
Ingrid ist nicht mehr in der Lage, zu unterscheiden, wer es gut mit ihr meint
und wer ihr übel mitspielen will. Es ist ihr im Grunde auch egal, sich selbst
ist sie nur noch wenig wert. Taubheit sucht sie, nichts leichter, als sich dem
verlockenden Sog des Schlafs hinzugeben, nur einen kurzen Moment aufhören zu
existieren.
Nach dem wie zu erwarten missglückten
Weihnachtsfest bei ihrer Mutter, macht ihr eine Mitteilung ihres Bruders allzu
schmerzhaft bewusst, dass sie dennoch immer noch etwas fühlt. Schmerz
empfindet, auch wenn sie sich verbietet, ihn wahrzunehmen, ihm Ausdruck zu
verleihen. Taubheit vorzutäuschen ist so viel einfacher für Ingrid. Beziehungen
abrupt abzubrechen, ohne Warnung, ohne Erklärung, ohne Grund. Bevor jemand ihr
Schmerz zufügen kann. Sie kann noch so viel schlafen, sich taub stellen und
unsichtbar machen – die Wahrheit ist: der Schmerz bleibt.
„Alles ist jetzt“ beeindruckt durch seine
kraftvolle Rohheit, seine ungeschönte Darstellung einer tief verletzten
Persönlichkeit auf der Flucht vor sich selbst. Julia Wolfs reduzierte,
beklemmende Sprache trägt die Persönlichkeit ihrer Protagonistin, spiegelt sie
wider und verleiht so eben jenen unterdrückten Gefühlen Ausdruck, von denen sie
sich vergeblich zu distanzieren versucht. Ingrid ist abgestumpft, phlegmatisch,
verroht, depressiv, widersprüchlich. Aber genau das macht Ingrid so erschreckend
lebendig, so bestürzend wahrhaftig in ihrem ziellosen Treiben und dem Versuch,
sich von ihrer Vergangenheit und ihrem Ich loszusagen.
Ein großartiges, betroffen machendes Debüt, welches
nicht vor der nötigen – extrem expliziten! – Drastik zurückschreckt, um der Thematik gerecht zu werden.
Eine beeindruckende Lektüre!
Alles ist jetzt
von Julia Wolf
2015 Frankfurter
Verlagsanstalt
ISBN 978-3-627-00211-4
Interesse? Hier geht es zum Buch
auf der Verlagsseite (dann muss allerdings noch unter dem Autorennamen gesucht
werden ...):
Auf der Suche nach einem Roman, der dieser
Empfehlung ähnelt?
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