Am stillen Meeresgrund: Aquarium
Caitlin ist zwölf und jeden Tag nach der Schule
läuft sie ganz allein zum Aquarium. Während sie auf ihre Mutter wartet, sieht
sie sich dort die Fische an, die gewöhnlichen wie die absurden Kreationen der
Natur. Sie wäre selbst auch gern ein Fisch, unter Tonnen von Wasser begraben am
Meeresgrund. Ruhig wäre es, friedlich. Sie müsste sich keine Sorgen mehr um
ihre Mutter machen und dass man sie ihr wegnehmen könnte, wenn das Sozialamt
erführe, wie viele Überstunden ihre Mutter im Containerhafen macht und dass
Caitlin dann immer allein auf sie wartet – im Aquarium mittags, abends und
nachts im Auto beim Hafen. Sie haben nicht viel, obwohl ihre Mutter schwer
arbeitet, damit sie vorankommen im Leben. Aber sie haben sich. Über ihre
Familie redet ihre Mutter nie, bis Caitlin sich im Aquarium mit einem älteren
Herrn anfreundet, dessen Auftauchen ihr Leben ins Wanken bringt.
„Der ganze
Planet ein Meer. Der Gedanke gefiel mir. Jede Nacht beim Einschlafen war ich in
meiner Vorstellung am Meeresgrund, Tausende Meter tief mit dem schweren Wasser
auf mir, doch ich schwebte knapp über dem Boden, in etwa wie ein Mantarochen,
flog lautlos und schwerelos über endlose Weiten, (...), ganz in dem einen
Element, ganz zu Hause, auf allen Seiten ebenso schwebende Schatten,
große Flügel
ohne Laut und Sicht, doch spürbar und gewiss.“
David Vanns schonungsloser Roman „Aquarium“
entführt den Leser in die Gefühlswelt einer einsamen Zwölfjährigen, welche sich
nichts mehr als eine glückliche Familie wünscht. Die sorgsam platzierten Illustrationen
der Fische, über die Caitlin sich mit dem alten Mann im Aquarium unterhält,
unterstützen die Narration des Romans, in ihnen offenbart sich Caitlins
Weltsicht, ihre Hoffnungen und Wünsche.
Unter der Oberfläche abtauchen, unsichtbar werden, nichts
möchte Caitlin mehr. Aber es wird immer schwerer zwischen ihr und ihrer Mutter,
der sie ihre neue Bekanntschaft und ihre neu entdeckten Gefühle für ihre schöne
Schulfreundin Shalini verheimlicht. Schließlich ringt sie sich dann endlich
doch dazu durch, ihrer Mutter von ihrem Freund aus dem Aquarium zu erzählen und
es zerbricht etwas in ihrem kleinen Leben. Ihre Mutter ist außer sich, zunächst
aus Angst, dann aus glühend weißer Wut, als die wahre Identität des älteren
Herren offenbar wird. Da ist etwas in ihrer Mutter, ein Teil von ihr, den
Caitlin noch nie zu Gesicht bekommen hat. Etwas Wildes, Rohes, Gewalttätiges
drängt an die Oberfläche. Ihre Mutter schreckt vor nichts zurück, um Caitlin
eine einschneidende Erfahrung ihres Lebens nahezubringen, ganz egal, wie sehr
sie sie dabei verletzt. Verstehen soll Caitlin. Fühlen muss sie es, selbst
erleben, um ihre Mutter zu verstehen. Den Schmerz zu verstehen, die unbändige
Wut. Denn es kann keine Vergebung geben, kein Vergessen. Zu tief ist die Wunde,
sie schwelt schon zu lange. Was man ihr angetan hat, kann nicht vergessen
werden, für sie kann es keinen Neuanfang geben. Caitlin versteht ihre Mutter
nicht – das wäre doch ihre Chance, eine richtige Familie zu haben und aus ihrem
traurigen Leben auszubrechen. Tapfer stellt sie sich ihrer gebrochenen Mutter,
liebt sie, trotz ihres unfassbaren Zorns, der ihr Leben zu zerstören droht. Nur
ein bisschen Vergebung, mehr bräuchte es nicht.
„Aquarium“ schockiert. Es macht sprachlos, wozu
Caitlins Mutter fähig ist, zu welcher Grausamkeit sie sich hinreißen lässt, um
ihrem eigenen, jahrelang in sich aufgestauten Zorn Ausdruck zu verleihen. Man
fühlt sich erschlagen, kann es nicht fassen, wie schnell eine alte, nie
verheilte seelische Wunde etwas in ihr so furchtbar verändert, sie zu einem
komplett anderen Menschen macht. Aber Caitlin gibt nicht auf, beharrt auf einem
Neuanfang, einer Art von Vergebung – auch wenn dabei die absolute Liebe zu
ihrer Mutter zerstört wird. David Vann erzählt eine fassungslos machende,
tragische Lebensgeschichte, die zeigt, wie schwer es ist, Vergebung zu finden
und selbst zu vergeben.
Aquarium (orig. Aquarium)
von David Vann
2016 Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-42536-7
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