Ein Leben für die Musik: Die Einzigen
Harry Bieler, Erbe eines Seifenimperiums, war schon seit seinen
Studienzeiten verliebt in Marlene, die Freundin seines Bandkollegen und
Freundes Sellwerth.
Zu dritt gründeten sie die Band „Die Einzigen“, wollten mit ihrer
Kunst die Gesellschaft revolutionieren - doch als es Marlene zu trivial wurde,
zog es die hochbegabte Komponistin nach Venedig zum Studium, Harry und
Sellwerth blieben zurück. Nach diesem kurzen, musikalischen Aufbegehren fügte
Harry sich in die Rolle des Unternehmenserben und stieg in der Firma seines Vaters
ein, wurde später selbst Leiter derselben. Jahre vergehen, bevor Harry Marlene
an Sellwerths Beerdigung wiedertrifft. Nach all diesen Jahren empfindet er noch
immer etwas für die radikale, zuweilen arrogante Marlene. Etwas außerhalb von
Venedig kann er sie schließlich ausfindig machen, da der Gedanke an sie und
ihre gemeinsame Musikerzeit ihn seit der kurzen Begegnung nicht mehr
losgelassen und sein doch so bürgerliches Leben vergiftet hat. Marlene lässt
Harry an der langen Leine, flirtet dennoch mit ihm und bittet ihn schließlich,
sie mit nach Deutschland zu nehmen und von den Fesseln ihres italienischen
Mäzens zu befreien. Nichts wäre Harry lieber. In München ist Marlene allerdings
nicht unbedingt zutraulicher, sie braucht viel Raum für sich und ihre Kunst.
Harry ist mittlerweile desillusioniert was sein kreatives Potential anbelangt,
trotzdem versucht auch er, etwas zu schaffen: Er will das Familienerbe, die Seifenfirma,
endlich modernisieren, so mit seiner ungeliebten Vergangenheit abschließen und
nicht zuletzt Marlene damit beeindrucken.
„Die Einzigen“ ist ein absolut monumentaler Roman über Kunst,
verzweifelte Liebe und den Verlust von Illusionen.
Während sich mit dem Protagonisten Harry, aus dessen Sicht über etwa
dreißig Jahre hinweg erzählt wird, jeder identifizieren kann, bildet Marlene
mit ihrer außergewöhnlichen Begabung, ihrem schon krankhaften Streben nach
Perfektion und dem Absoluten den extremen Gegenpol zu ihm. Sie ist hochintelligent,
talentiert, schön - aber gerade deshalb erscheint sie Harry zuweilen umso
unerreichbarer, gefangen in anderen Sphären, meilenweit überlegen in ihrem
Intellekt und ihrer Kreativität. Zu Beginn ihrer Beziehung beneidet er Marlene
um ihre Kunst - er hat zwar Jahre nach seinem Studium eingesehen, dass er nie
ein talentierter Musiker war oder werden würde, dennoch wäre er es gerne
gewesen. Stattdessen fügt er sich in die vom verachteten Vater vorgeschriebene
Bahn, wird dessen Nachfolger. Er widmet sich lieber dem Genuss, Frauen,
Designermöbeln und anderen kostspieligen Hobbies. Mit Marlene hält aber wieder
die Musik, die Kunst im allgemeinen Einzug in sein Leben. Sie fasziniert ihn in
höchstem Maße - nicht nur ihre absurde, elektronische Musik, mit der sie
radikal ihr eigenes Musikverständnis zum Ausdruck zu bringen versucht - auch
schlicht ihr unbedachtes Spiel von Anziehung und Ablehnung. Es bleibt eine
Ungleichheit und Distanz zwischen ihm und Marlene. Ihr Komponieren nimmt enorm viel Zeit in Anspruch, Zeit, in der sie
und Harry sich nicht sehen, Zeit, die er versucht durch Aktionismus
herumzubringen. Die Modernisierung der geerbten Firma befriedigt dabei mehrere
Wünsche Harrys zugleich: Sie entfremdet ihn von seiner verhassten, spießigen
Vergangenheit, welche noch immer auf ihm lastet, und andererseits hat er so die
Möglichkeit selbst schaffend und kreativ etwas Bleibendes umzugestalten. Dennoch
bleibt es nicht mehr als Aktionismus; Marlenes erhoffte Bewunderung erhält er
so leider nicht. Zu sehr ist sie gefangen in ihrer eigenen Welt, die sich um
kaum mehr als die Musik und den noch bessere Ausdruck derselben dreht. Sie
bemerkt Harrys berufliche Anstrengungen nicht einmal. Neben ihrer Musik, diesem
wichtigsten, nahsten Aspekt von Marlenes Leben, bleibt nicht viel Platz für
irgendetwas anderes, auch nicht für Harry. Marlene ist bereit, radikal alles und
jeden ihrer Musik, ihrer Kunst unterzuordnen; Harry soll das noch Jahre darauf erfahren,
als Marlene später Ruhm zuteil wird. Sie tut es nicht aus bösem Willen oder aus
Desinteresse an Harry, ihre Musik ist schlicht der essentiellste Bestandteil
ihrer Existenz, ohne welchen sie nicht weiterleben könnte.
In Harrys Leben reiht sich Desillusionierung an Desillusionierung: Zunächst
die Illusionen, welche er sich selbst in seiner Jugend über seine eigenen
musikalischen Fähigkeiten und Talente gemacht hatte, daraufhin folgt Jahre
später der Verlust seiner Illusionen bezüglich seiner Liebe zu Marlene, die
nichts mehr lieben kann als die Musik.
Erst durch diesen Verlust kann er sie aber ohne jeglichen Neid oder
Groll betrachten, kann wertfrei erkennen, wie sehr sie selbst durch ihren Drang
zur Kunst eingeschränkt und getrieben wird. Durch die Distanz zu ihr kann er
das Gefühl der Wertschätzung für ihre Kompositionen, das er zuvor verloren
hatte - überschattet von Ressentiments und Enttäuschungen - erneut für sich entdecken
und so einen neuen Zugang zu ihr und seinem eigenen Musikverständnis finden.
Selten liest man solch kraftvolle, visuell reiche, emotionale Beschreibungen einer
Kunsterfahrung wie wir Harrys musikalische Erlebnisse als Leser miterleben -
noch seltener jedoch liest man so hautnah und zugleich doch so voyeuristisch
von den Schattenseiten großer Kunst. Norbert Niemann erzählt in seinem Roman von einer Liebe, die alle
Widrigkeiten zum Trotz neu auflebt, von der Krankheit, die die Kunst sein kann,
vom befreienden Verlust von Illusionen und von drei Jahrzehnten, in denen sich
die Gesellschaft und der Markt für Kunst (und Seifen) radikal veränderte.
Konstant bleibt in all den Jahren nur weniges: Marlenes Musik und Harrys Liebe
für sie.
Die Einzigen
von Norbert Niemann
2014 Berlin Verlag
ISBN 978-3-8270-1253-1
Interesse? Hier geht es direkt zum Buch auf der Verlagsseite, auf der
ihr auch eine höchst interessante kommentierte Playlist zu Norbert Niemanns
Inspirationsquellen für den Roman findet:
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