Von fatalen Begierden und selbstsüchtigen Motiven: The Virgins
Bruce Bennett-Jones erzählt die Geschichte von Aviva und Seung, es ist
das mindeste, was er tun kann. Alle drei gehen sie 1979 auf das kostspielige Eliteinternat
Auburn, dessen strenge Regeln keinen der Jugendlichen davon abhält, selbige zu
unterwandern - so lange der Schein gewahrt bleibt, bleibt man verschont von
Disziplinarmaßnahmen oder Schlimmerem.
Aviva Rossner, eine Jüdin aus wohlhabender Familie fällt nicht nur
Bruce Bennett-Jones vom Tag ihrer Ankunft in Auburn durch ihre opulente
Extravaganz und ihren Drang, gesehen zu werden, auf. Nach einer missglückten
Annäherung von Seiten Bruces, ist er dazu verdammt, das Objekt seiner Begierde
aus der Ferne zu beobachten. Währenddessen sucht sich die direkte, ehrliche
Aviva einen anderen Liebhaber: Der koreanisch-stämmige, drogenliebende Seung
Jung ist mit Bruce in der Abschlussklasse, stammt sogar aus derselben
Kleinstadt wie er. Seung und Aviva bewegen sich fortan mit ihrer
extrovertierten, kaum verheimlichten Zuneigung und Körperlichkeit am Rande des
Regelbruchs, entgehen oft nur mit Hilfe von Seungs loyalen Freunden der
Disziplinierung. Sie und ihre höchst sexuelle - so munkelt man zumindest am
Auburn - Liaison ist Gesprächsthema Nummer eins unter eifersüchtigen
Mitschülern wie den wachsamen Lehrkräften.
Auch Bruce beobachtet voll Neid und unerwiderter Liebe zu Aviva wie
Seung eben jene Frau so offensichtlich besitzt, welche er nicht vergessen kann.
Dass Aviva und Seung kaum so sexuell aktiv sind, wie alle dabei unterstellen,
ahnt niemand. Als die Abwärtsspirale ihrer Fehlversuche und Enttäuschungen sich
verselbstständigt, wird Seung schließlich mit ihr in die Tiefe gerissen.
Einen wirklich intensiven, mitreißenden Roman hat Pamela Erens mit
„The Virgins“ geschrieben, dessen Inhalt reicher und spannungsgeladener nicht
sein könnte. Vordergründig schildert uns Bruce Bennet-Jones retrospektiv die
Ereignisse rund um Aviva und Seungs vielbeobachtete Liebschaft in den Jahre
1979 bis 1980. Seinen privaten voyeuristischen Blick bereichert er mit dem, was
ihm Jahre später Freunde Avivas oder andere Bekannte erzählten, sowie mit dem,
was er selbst auf Grundlage dessen und seiner eigenen Erlebnisse schlussfolgern
konnte. Dieser etwas distanzierte, aber deshalb umso imaginativere Erzählstil,
der von Pamela Erens suggestiv-üppigen Prosa unterstützt wird, gibt dem Roman
eine ungeheure, sehr eigenwillige Dynamik verleiht ihm eine inhaltliche Dichte
und Vielschichtigkeit durch verschiedene, sich überschneidende Erzählebenen. Neben Aviva und Seungs gemeinsamen Erlebnissen werden so auch ihre
jeweils einzelnen Handlungsstränge, wenn sie voneinander getrennt sind, durch
Bruce nachempfunden, indem er den Leser an den erfundenen wie
geschlussfolgerten Gedanken und Emotionen der beiden teilhaben lässt.
Schließlich gibt es noch die Ebene von Bruce selbst, in der er sein Erleben der
beiden als auktorialer Erzähler darstellt und uns zusätzlich einen Einblick in
sein Leben zu dieser Zeit gibt.
Seung und Aviva sind ein ungleiches Paar. Sie eine Jüdin aus reicher Familie,
er der zweite Sohn einer strengen koreanischen Einwandererfamilie. Wie zerbrochen und unsicher Aviva ist, wird in vielen ihrer Handlungen
offenbar: Sie legt extremen Wert auf ihr Äußeres, will auffallen, gesehen
werden und versucht das durch extravagante Kleidung und starkes Make-up zu
erreichen. Diese Fassade dient jedoch nur ihrem Selbstschutz - nichts fürchtet
sie mehr, als mit sich und ihren Gedanken allein zu sein. Sie bleibt für sich
selbst unberechenbar, ob es nun um maßvolles Genießen von Essen oder um das
Erreichen ihres Höhepunktes geht. Aviva kann deshalb nur auf sich selbst und
auf ihre Kontrolle vertrauen, was sie in ihrer Beziehung mit Seung, der dem
Konsum von diversen Drogen nicht abgeneigt ist um sich - konträr zu Aviva - von
genau jener Kontrolle und seinem Selbst im Rausch zu distanzieren, so immer
öfter an ihre eigenen Grenzen stoßen lässt. Ihr geringes Selbstbewusstsein
führt weiterhin dazu, dass sie jedes sexuelle Scheitern von Seiten Seungs als
ihre Schuld ansieht, als Makel ihrer selbst. Aviva fürchtet nicht geliebt
werden zu können - dabei empfindet sie für Seung selbst wenig mehr als
Zuneigung. Ihr geht es nicht um Seung als Person, sondern um den Beweis, dass
sie überhaupt geliebt werden kann; Sex ist für sie lediglich Ausdruck dessen.
Während er heillos ihrem Charme erlegen ist und für sie alles tun
würde (was er auch mehr als einmal beweist), bleibt sie, wenn sie vor sich
selbst ehrlich ist, ihm gegenüber erschreckend kalt. Dennoch lässt sie nichts
unversucht, um mehr zu empfinden, mehr zu lieben, um mit Seung doch noch den
Sex zu erleben, den ihnen der gesamte Campus unterstellt. Seung hingegen trifft sein mehrfaches sexuelles Scheitern bei Aviva
umso härter, weil er so mit Aviva die schlimmstmöglichen Befürchtungen von
Unzulänglichkeit, Scheitern und Zurückweisung lebt, welche seiner schwierigen
Beziehung zu seinen Eltern entspringt. Denn als Zweitgeborener konnte er nie
den Erwartungen seiner Eltern gerecht werden und musste stets um ihre fragile
Zuneigung bangen. Diese Empfindung teilt er mit Bruce, der ihm seine Beziehung
zu Aviva missgönnt und dessen Fantasien sich, obwohl er selbst eine Freundin hat,
nur um sie drehen. Auch Bruce ist mit seiner Liebe für das Theater ein
ungeliebter Sohn, der immer hinter den hohen Erwartungen seines distanzierten,
kaltherzigen Vaters, den er selbst ausschließlich bei seiner Berufsbezeichnung
(er ist Richter) und nicht bei seinem Namen nennt, zurückbleibt.
Je mehr Bruce erzählt von Aviva, Seung und sich selbst, desto stärker
werden die Risse und Abgründe hinter den perfekten Fassaden ihrer Familien und
dem Antlitz offenbar, welches sie selbst der Welt darbieten - keine Liebe ist
bedingungslos, so scheint es. Aber genau diese bedingungslose Liebe suchen Seung und Aviva
ineinander, müssen aber erkennen, dass sie zusätzlich zu allen äußeren
Widrigkeiten nur mehr und mehr Enttäuschungen anhäufen. Ihr konstantes Scheitern
gipfelt in dramatischen Ereignissen, in denen Seung den Preis zahlt für ihre
vergeblichen Liebesversuche, ihre Unzulänglichkeiten und die Unversöhnlichkeit,
welche jeder von ihnen, getrieben von Egoismus, bitterem Neid, Einsamkeit,
Begierde und unerwiderter Liebe, heraufbeschworen hat.
The Virgins (dt. Die Unberührten)
von Pamela Erens
2014 John
Murray Publishers
ISBN 978-1-84854-988-3
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