Geheimnisvolles Schweigen und eisige Kargheit: Das kalte Jahr
Während der kältesten Zeit des Jahres beschließt ein junger Mann, die
große Stadt, in welcher er wohnt, zu verlassen. Zu Fuß macht er sich auf den
Weg zum Haus seiner Eltern in das kleine Dorf am Meer, das er schon jahrelang
nicht mehr aufgesucht hat. Er läuft aus einem spontanen Entschluss heraus los,
ohne wirklich vorbereitet zu sein, ein paar Äpfel, Wasser, ein Fotoapparat,
eine Tageszeitung und die Kleidung, die er am Leib trägt, sind die einzigen
Gegenstände, welche er aus seinem alten Leben mitnimmt. Entlang einer Autobahn läuft er dem Dorf seiner Kindheit entgegen,
erst jetzt kommt ihm der Gedanke, dass er dort zwangsläufig auch den lange
nicht mehr gesehenen Eltern wiederbegegnen würde. Eine Autobahnraststätte, Jauchegruben, verschneite Felder passiert er,
bevor er sich nach langem, anstrengendem Marsch dem Waldgebiet nähert, das an
das Dorf der Eltern grenzt. Ein aufgegebenes Militärgebiet liegt dazwischen,
welches seit jeher das Dorf abschirmt und das Leben der Bewohner bestimmt. Endlich angekommen in dem in einer winterlichen Kältestarre gelähmten
Dorf, empfangen ihn im Haus aber nicht seine Eltern, sondern ein ihm
unbekannter Junge namens Robert. Eine merkwürdige Übereinkunft treffen die
beiden und leben fortan in dem eingeschneiten Haus, in dem in Schlaf und
Schweigen gehüllten Dorf seiner Jugend zusammen. Der eisige Winter scheint kein
Ende zu nehmen.
„Das kalte Jahr“ von Roman Ehrlich ist ein außergewöhnlicher, suggestiv-traumähnlicher
Roman. Dieses sich stark von der literarischen Masse abhebende Debüt wurde
verdient mit dem Förderpreis zum Bremer Literaturpreis, dem Automatische-Literaturkritik-Preis
der Riesenmaschine sowie dem Robert-Walser-Preis ausgezeichnet.
Es ist eine Szenerie wie am Rande des Erwachens aus einem Traum, in
die uns Robert Walser mit seinem namenlosen Protagonisten schickt. Aus der für
ihn mit einem Mal unerträglich gewordenen Zivilisation, in der es
ausschließlich um das Funktionieren von Mensch und Maschine geht, bricht der
Erzähler, der zugleich auch der Protagonist des Romans ist, kurzentschlossen
aus. Er kehrt der Stadt und der Zivilisation dem Rücken, vergisst sie und sein
Leben darin immer mehr, je weiter er sich von ihr entfernt. Als auch die
letzten Außenposten des menschlichen Lebens in der wilden, in Kälte erstarrten
Natur zwischen Stadt und verlassenen Militärgebiet, das das Dorf wie eine
Todeszone umschließt und abschirmt, hinter ihm liegen und er sich seinem Ziel
immer weiter nähert, verschwimmt die Wahrnehmung des Erzählers immer stärker.
Dass ihn nicht wie erwartet die Eltern, sondern Robert, den er noch
nie zuvor gesehen hat, im Haus empfangen, akzeptiert er nach kurzem, wenig beharrlichen
Nachfragen in einer Art von Traumlogik klaglos. Er fragt Robert in der Zeit
ihres gemeinsamen Wohnens zwar noch häufiger nach dem Verbleib seiner Eltern
oder seiner Person, doch nie erhält er darauf eine Antwort. Er entwickelt ein
Verantwortungsgefühl Robert gegenüber, seine Fragen vergraulen den auch sonst
eher schweigsamen Jungen, der sich in seinem ehemaligen Kinderzimmer
eingenistet hat. Robert baut an etwas, was, will er nicht sagen, er tut es im
Geheimen. Um ihnen weiter Nahrung und Robert seine zum Basteln benötigten
Utensilien kaufen zu können, nimmt der Erzähler den Job in einem Elektrogeschäft
wieder an, welchen er schon in seiner Jugend einmal innehatte. Dort verbringt er seine Vormittage fortan mit dem Säubern von defekten
Fernsehern und Fernbedienungen und dem Aufnehmen von Kassetten für die
Dorfbewohner, die - vollkommen aus Zeit und Raum gefallen - nur noch über das
so auszugsweise dokumentierte Fernsehprogramm des vorherigen Tages Zugang und
Verbindung zur Außenwelt haben. Zeit scheint im Dorf bedeutungslos geworden zu
sein, fest umschlossen im Griff des Winters und des Vergessens.
Der Protagonist erzählt Robert abends Geschichten, welche scheinbar
keinen Zusammenhang haben, sie erscheinen willkürlich, ebenso wie die
Aufnahmen, die er tagsüber vom Fernsehprogramm macht oder seine Photos bei
ihren gemeinsamen Spaziergängen. Zwischen Robert und ihm kommt es zu einem leisen Bruch, als er dessen
ebenso zusammenhanglose, jedoch scheinbar explosive Machwerke heimlich
untersucht - doch auch hier entzieht sich der Roman den gängigen Normen und den
Erwartungen des Lesers. Ein faszinierender Roman, der sich sein Geheimnis zu
bewahren weiß und ob dieses Umstandes umso stärker fesselt.
Mit „Das kalte Jahr“ hat Roman ehrlich einen stillen aber umso eindringlicheren
Debütroman verfasst, welcher sich ebenso wie sein Protagonist entzieht -
vorrangig einer einheitlichen Deutung. Es geht um Verweigerung, Verwirrung, Unausgesprochenes,
Einsamkeit und Vereinzelung, um die Dinge unter der zu Eis erstarrten Oberfläche.
Ein höchst suggestiver wie symbolhafter Roman, bei dem man sich als Leser oft
nicht sicher sein kann, wo genau die Grenze zwischen Realität und Traum
verläuft, die der stets aufmerksam beobachtende Erzähler selbst so vage zu
ziehen in der Lage ist. Als verbindendes Merkmal zwischen den willkürlich
erscheinenden Erzählungen des Protagonisten, seinen Erlebnissen und den
Fernsehaufnahmen bleibt allein die überpräsente Symbolik des Winters bestehen.
Dieses Debüt ist durch seine sprachliche Klarheit, seine karge
Einfachheit wie durch seine außergewöhnliche inhaltliche Schilderung ein
Erlebnis, das man sich als anspruchsvoller Leser nicht entgehen lassen sollte.
Das kalte Jahr
von Roman Ehrlich
2013 DuMont Buchverlag
ISBN 978-3-8321-6296-2
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