Ein musikalisches Talent, verloren in den Wirren der Zeit: Das letzte Land
Ruven Preuk lebt mit seinen Eltern, seinem Bruder John und dem Mündel
seiner Mutter, Gesche, Anfang des 20. Jahrhunderts im Norden Deutschlands auf
dem flachen Land. Es ist ein kleines Dorf, in dem sie leben, der Vater hat eine
Stellmacherei - da passt Ruven mit seiner musikalischen Begabung nicht hinein.
Seine erste Geige bekommt er von einem Wandermusiker geschenkt, ein Gefühl wie
keines zuvor durchströmt ihn, endlich all die Töne, die Ruven sonst um sich
herum optisch wahrnimmt nun auch selbst erzeugen und formen zu können. Sein Vater muss aber noch überzeugt werden, seinen jüngsten Sohn an
die Kunst zu verlieren - erst nach einer gewalttätigen Auseinandersetzung
stimmt er aus Scham und Entsetzen über sein Verhalten zu, Ruven von Ils Drodel,
dem Geiger des Dorfes, unterrichten zu lassen. Drodel ist mehr als angetan von
Ruven, zieht ihn ob seiner musikalischen Begabung sogar seinem eigenen Sohn
Fritz vor und legt so den Nährboden für eine folgenschwere lebenslange
Feindschaft zwischen den beiden Jungen.
Nach Drodel nimmt Ruven Unterricht beim jüdischen Musiker Goldbaum in
der Stadt. Goldbaums Enkelin Rahel hat es ihm vom ersten Moment an angetan,
Ruven wird die Hingezogenheit zu ihr ein Leben lang nicht verlassen. Als Goldbaum stirbt, verschwindet Rahel und Ruven sucht sich einen
neuen Lehrer, Professor Bernhard. Dieser führt ihn und sein außergewöhnliches
musikalisches Talent in der besseren Gesellschaft ein, in welcher Ruven die
Aufmerksamkeit des Kunstmäzens Doktor Linde erregt. Von Doktor Linde seither gefördert, scheint Ruvens Durchbruch als
Musiker kurz bevor zu stehen, als der Zweite Weltkrieg ausbricht.
„Das letzte Land“ von Svenja Leiber ist ein wirklich fantastischer
Roman. Svenja Leiber schafft es, mit wenigen wohlgewählten Worten Geschichte
für ihren Leser erfahrbar zu machen und ihre plastischen, vielschichtigen
Charaktere mit wenig mehr als einem Halbsatz treffend Leben einzuhauchen.
Ruven muss sein Leben lang sein musikalisches Talent gegen alle
Widerstände - von innen und außen - verteidigen, um seinem Traum oder eher
seinem Grundbedürfnis, Musik zu machen, zu folgen. An Widerständen ermangelt es
ihm auch wirklich nicht. In seiner Jugend muss er zunächst die Ablehnung des Vaters überwinden,
dann Vater und Bruder in der Stellmacherei ersetzen, als beide an der Front im
Ersten Weltkrieg sind. Der Vater kommt aus dem Krieg ebenso wenig zurück wie
ihr Knecht, Ruvens Bruder John ist zwar zurück aber für den Rest seiner Tage
vom Schlachten an der französischen Front traumatisiert. Dennoch übernimmt er
die Stellmacherei und heiratet Gesche, in die er so lange verliebt war. Der
Krieg hat John verändert, ein Schicksal, das auch Ruven noch erfahren wird.
Seine musikalische Ausbildung steht zwischen den Weltkriegen von außen
nichts mehr im Weg, schnell entwächst er dem Laienmusiker Drodel. Die
Feindschaft, die dieser jedoch zwischen Ruven und seinem Sohn Fritz, genannt
Fischotter, schürt, wird weitreichende Folgen haben und schwere Narben in
Ruvens fragiles Leben reißen. Fritz Drodel ist so voller Hass auf Grund der nicht
gerade dezenten Ablehnung durch seinen Vater, dass er mehr und mehr ins Extreme
tendiert, seinen Hass an Andersartigen auslebt und sich so schließlich nahtlos
ins grausame, menschenverachtende NS-Regime einpasst. Ruven hatte vor dem Ersten Weltkrieg keinerlei politisches Interesse,
seine gesamte Zeit und sein Denken waren allein der Musik gewidmet. Durch Emma,
eine feministische Sozialistin, die im Dorf als Hebamme fungiert, kommt er
jedoch in Berührung mit für ihn neuem Gedankengut. Ihr tragischer Tod stürzt
ihn in Verzweiflung, eine gute Freundin wie Emma hatte er bis dato nie gehabt,
er war und blieb nach Emmas Tod ob seiner außergewöhnlichen Begabung immer ein
Einzelgänger, gemieden von den anderen Jugendlichen seines Dorfes.
Lene Lunten, die Tochter des Gutsverwalters, hat er sich als Braut
auserkoren, nachdem er an Rahels Onkel auf Grund seiner Herkunft und mangelnden
Bildung scheiterte. Ruvens Durchbruch scheint zum Greifen nahe, Doktor Linde, sein Mäzen,
führt ihn immer wieder in die gehobenen Kreise ein und überlässt ihm sogar eine
bessere, wertvolle Geige. Dennoch fühlt er sich immer fremd in diesen
Ansammlungen der Reichen, Schönen und Gebildeten. Ein Fremdkörper vom Lande,
dessen Ungebildetheit jedem auffallen muss, obwohl Ruven es die meiste Zeit
über vermeidet, zu sprechen. So bleibt er wegen seiner einfachen Herkunft und
Unsicherheit ein Außenseiter in diesen illustren Kreisen, obgleich sein
musikalisches Talent ihn dafür prädestiniert hätte, Teil eben jener
Gesellschaftsschicht zu werden.
Die Machtergreifung und der Krieg machen dann schließlich Ruvens
letzte verzweifelte Hoffnungen zunichte, dass er doch noch einmal die ihm
zustehende Aufmerksamkeit für sein Talent erhalten würde. Der Krieg verändert
ihn, zerbricht ihn, nichts als Leere zurücklassend, wie der Erste Weltkrieg
seinen Bruder John veränderte. Ruven und seine Frau Lene treffen beide Entscheidungen, die den Lauf
ihres weiteren Lebens bestimmen, aus Lenes guten Absichten erwächst dabei
jedoch genau so wenig Gutes wie aus Ruvens schierer Gleichgültigkeit. Rahel
bleibt dabei all die Jahre seines Lebens ein unerreichter, nie erwähnter
Wunschtraum, der Ruven auch nach dem Verlust von allem, was ihm je lieb und
teuer war, nicht verlassen hat.
Svenja Leibers Roman „Das letzte Land“ ist monumental in seiner
inhaltlichen Wucht, der enormen historischen Zeitspanne, die er umfasst. Anhand
von Ruvens unperfektem Leben zeichnet die Autorin ein beunruhigend akkurates Portrait
eines Landes am Abgrund und im stetigen Wandel, zugleich bildet sie eine
Generation ab, welche sich schwer tat, sich den vielfältigen Veränderungen
anzupassen und mehrheitlich an den Wirren ihrer Zeit zerbrach.
Ruven scheitert als Künstler und Mensch, er scheitert, weil er in die
falsche Zeit geboren wurde, eine Zeit, in der so viel auf einmal geschah und
sich veränderte, dass er als Einzelner, zerbrochen an seinem Schicksal, einfach
zermahlen wurde in den Mühlen der großen Politik und Geschichte. Das Verdienst der Autorin liegt neben ihrer eindringlichen, zwischen
grob und lyrisch schwebenden Prosa, in dem tiefsinnigen Portrait einer
verlorenen Generation und der deutschen Geschichte des letzten Jahrhunderts.
„Das letzte Land“ ist wirklich absolut großartige, bedeutsame Literatur.
Das letzte Land
von Svenja Leiber
2014 Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-42414-8
Interesse? Hier geht es direkt zum Buch auf der Verlagsseite:
Die Taschenbuchausgabe findet ihr hier:
http://www.suhrkamp.de/buecher/das_letzte_land-svenja_leiber_46576.html
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