Gefährliche Liebschaften als Scherz verpackt: Alle Pferde des Königs


Geneviève lebt mit Gilles ein unbeschwertes und ebenso formfreies wie zwangloses Leben in Paris. Beide leben in den Tag hinein, entziehen sich bestehenden Konventionen und rütteln an ihnen, wo sie nur können. Ihre Liebe ist unangefochten, die Affären der beiden können daran nicht rütteln. 
Dann begegnen die beiden eines Tages der naiven, unsicheren Carole, welche sie sofort als neue Liebschaft auserküren. Carole liebt Gilles haltlos, zu Geneviève schaut sie auf. Die beiden eröffnen ihr eine Weltsicht und einen Lebensstil, den sie aus ihrem prüden Elternhaus nicht kannte. Eine geglückte Menage-á-trois, wie es scheint. Doch Carole ist nicht Gilles erste Affäre, sie wird auch nicht seine letzte sein. Er hat sich ab einem gewissen Punkt immer zu Ende gespielt mit der Neuen und wendet sich wieder seiner Frau Geneviève zu. Geneviève weiß das ganz genau, kann jedoch nicht komplett ausblenden, dass es sie trotz ihres freizügigen Beziehungsarrangements etwas verletzt und bekümmert, wie sehr Gilles sich Carole zuwendet und sie vernachlässigt. Deshalb geht sie selbst in die Offensive und lenkt sich ab mit einem gutaussehenden jungen Poeten - Bernard verfällt ihr sofort. Ein Urlaub an der Côte d’Azur wird zum Wendepunkt in der fragilen Dreiecks- und Mehrecksgeschichte.

Wie liest man einen Roman, der „die Parodie des Romans“ darstellt? Einen Roman, der als Akt des Experiments geschrieben wurde, als Beweis dessen, dass Sprache abgelöst von dem Stoff, den sie darstellt, sich jeglicher Deutungsherrschaft entziehen kann und so eine neue, revolutionäre Ästhetik verkörpert. So zumindest der Wunsch der International Lettriste, aus denen später die International Situationniste hervorgingen, denen auch Michèle und ihr Mann Guy Debord angehörten. „Alle Pferde des Königs“ war Michèle Bernsteins gelungener Beweis, dass selbst ein Roman komplett durch bereits bestehende Formulierungen verfasst werden kann. Was uns heute im Zeitalter der immer gleichen Massenunterhaltung nicht mehr verwundern kann, wenn doch im Literaturbetrieb ein erfolgreicher Roman eine ganze Welle an Nachahmern hervorruft, welche exakt auf demselben Plot wie das Erfolgsmodell basieren und selbiges weder bereichern noch übertreffen (man denke nur an die letzten schändlichen Beispiele à la „Twilight“ oder „Fifty Shades of Grey“ - und ja, ich nenne diese logikfreien und beschreibungsimpotenten „Romane“ schändlich). In den 1960er Jahren war es jedoch ein neuer und revolutionärer Gedanke, entsprungen der radikalen Ästhetik einer frischen literarischen Bewegung, deren Grundgedanken zwar nicht aus dem Nichts kamen (eindeutig ist der Dadaismus als Vorbild auszumachen), denen jedoch ob dieses Umstandes nicht weniger an umwälzender, gesellschafts- und kulturkritischer Kraft innewohnt. 
Michèle Bernstein bewies mit „Alle Pferde des Königs“ und „Die Nacht“ - mit letzterem noch viel augenscheinlicher -  ihren einzigen beiden Romanen, dass die Gedanken der Situationisten tatsächlich umsetzbar waren. Ihre eigenen Romane folgen dabei der Handlung des französischen Klassikers „Liaisons dangereuse“ von Choderlos des Laclos, obgleich sie selbige modernisiert und in ihre eigene reduzierte Sprache verpackt; auch „Bonjour Tristesse“ von Françoise Sagan liefert deutlich Vorlage für „Alle Pferde des Königs“. 
Spielerisch aber durchaus subtil wahrnehmbar verwendet Michèle Bernstein ihre Vorlagen, zuweilen hat man als Leser auch das Gefühl, ihre Figuren, die ausnahmslos real existierenden Personen ihres Umfeldes entlehnt sind, seien sich dessen bewusst - als wüssten sie, dass sie auftreten in der „Parodie des Romans“ und ihre Rollen, welche sie in ihrer hochexplosiven wie alkoholisierten Menage-à-trois einnehmen, zu spielen haben. 
Es bedarf hier keinerlei weiterer inhaltliche Deutung, da der Plot seinen Vorbildern entlehnt ist und es der Autorin dennoch gelingt, selbigen ohne große Anstrengung zu ihrem eigenen werden zu lassen. Ein Roman, den sie selbst als „Scherz“ bezeichnete, der einen Skandal in der literarischen Welt provozierte, zum Erfolg wurde und damit auch finanzielle Unterstützung für die mittellosen Situationisten bedeutete, all das und noch mehr ist Michèle Bernsteins Debüt „Alle Pferde des Königs“. Ein Stück literarischer Geschichte also, in wundervoller Übersetzung und ebenso schöner Gestaltung durch die Edition Nautilus. 
Wie also liest man einen solchen Roman? Wie jeden anderen Roman auch - aufschlagen, anfangen, in die Geschichte eintauchen und dabei die vielfältigen literarischen wie geschichtlichen Anspielungen und die hintergründige Ironie auf sich wirken lassen und ein Stück Literaturgeschichte, das bisher nie auf Deutsch zu lesen war, genießen.

Alle Pferde des Königs (orig. Tous les chevaux du roi) 
von Michèle Bernstein 
2015 Edition Nautilus 
ISBN 978-3-89401-811-5
 
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