Über den Versuch, Unvergessliches zu verdrängen: Der Grund


Laurits Simonsen wächst als wohlbehüteter Spross einer wohlhabenden, großbürgerlichen Familie in einer Villa in einem der Vororte Stockholms auf. Seine Kindertage sind bestimmt durch das wachsame Auge des strengen Vaters, die allmähliche Entfremdung von seiner unglücklichen Mutter und seine Klavierstunden bei Fräulein Andersson, die seine Mutter ihrem Mann abgerungen hat. Stets bedrückt ihn die Stimmung des Hauses, kühl, voll mit Unausgesprochenem, versteckt hinter starren Fassaden der Eltern. Magnus Simonsen sähe seinen Sohn Laurits weit lieber in seinem eigenen Metier, als erfolgreicher Arzt soll er in seine Fußstapfen treten. Doch Laurits hat Talent, eine Menge Ehrgeiz und mit den Jahren wird ihm immer klarer, dass er für sich eine Karriere als Konzertpianist erspielen will. Er ist sich ganz sicher, dass er alles hat, was dazu nötig ist und schließt eine Abmachung mit seinem Vater: Wenn er angenommen werden sollte am Konservatorium, kann er Pianist werden, sollte er aber scheitern, hat Laurits sich seinem Vater zu beugen und muss die Arztlaufbahn einschlagen. Es gibt für Laurits keine zweite Chance für eine Laufbahn als Pianist. 
Jahre später führt er ein heiles Familienleben mit seiner großen Liebe Silja und seiner kleinen Tochter Liis, seit Jahren hat er keine einzige Note mehr gespielt. Doch bei der Feier ihres zehnten Hochzeitstages wird Laurits etwas über sich selbst und sein Leben klar, was er nicht mehr vergessen kann.

Anne von Canals Debütroman „Der Grund“ vereint die direkte, ebenso leise wie schmucklose Prosa der Autorin mit drei vielschichtigen Erzählperspektiven und -zeiten, aus welchen sich erst zum Ende hin die Gänze des Romans herausbildet. „Der Grund“ ist ein ausgesprochen vielschichtiger Roman, welcher sich der Einordnung in einer der vielen Kategorien des Romans entzieht, da die Autorin Elemente aus jeder einzelnen zitiert, um ein dichtes Portrait von Laurits und dessen Leben zu zeichnen. 
Die Rahmenhandlung des Romans spielt im Jahre 2005, Laurits erzählt in Tagebucheinträgen von seinem Weggang aus Venedig und seinem Wanderleben als Kreuzfahrtpianist. Auf eben eine solche hat er sich nach seiner überstürzten Abreise aus Venedig geflüchtet, um zu vergessen. Er nennt sich seit Jahren nicht mehr Laurits Simonsen, sondern Lawrence Alexander. Seine Jugend, seine Familie, seine Zeit als Arzt hat er komplett hinter sich gelassen. Dennoch verfolgt ihn diese unablässig und mit zunehmender Gewalt drängt das Verdrängte wieder ans Licht. 
In den sechziger Jahren erleben wir als Leser Laurits lieblose Kindheit mit, gefangen zwischen der überlebensgroßen, furchteinflößenden Autorität seines Vaters und dem stummen, anklagenden Leiden seiner Mutter. Von ihr erbte er sein musikalisches Talent, aber wie sie sollte er es auf Grund der Wünsche seines Vaters nicht weiter verfolgen - immerhin ist er ein Simonsen, er hat familiäre Pflichten zu erfüllen und das meint den von seinem Vater vorgezeichneten Weg zu beschreiten, abseits seiner eigenen Wünsche und Veranlagungen. 
Der Schock seiner Ablehnung am Konservatorium lässt ihn bis ins Erwachsenenalter nicht los, seit jenem schicksalsverändernden Ereignis hat er sich der Musik versagt und so gut er konnte versucht, den Ansprüchen seines Vaters gerecht zu werden. Es ist ein glückliches kleines Leben, dass er sich aufgebaut hat mit Silja und Liis, es ermangelt ihnen an nichts. Durch die Winzigkeit einer Erwähnung seiner früheren musikalischen Berufswünsche an ihrem Hochzeitsjubiläum wird er jedoch jäh an seinen unfassbaren Verlust erinnert, welchen er jahrelang so erfolgreich verdrängt hatte, indem er jegliche Erinnerung daran aus seiner Biografie und Erinnerung tilgte. Nicht genug, dass er sich nun den erstaunten Fragen seiner Frau stellen muss, Laurits erkennt auch, dass sein gesamtes, jetziges Leben auf einer Lüge aufgebaut ist. Er erträgt es nicht mehr länger diese Lüge zu leben und den Verrat der Eltern weiterhin zu dulden und bricht aus - aus den erdrückenden Erwartungen, aus einer lieblosen Familie und aus einem unerträglich gewordenen Umfeld. 
Ein weiterer gravierender Schicksalsschlag wartet jedoch noch auf Laurits, bevor er endgültig alle Brücken hinter sich abbricht und aus ihm der Kreuzfahrtpianist Lawrence Alexander wird. 
Anne von Canal ist ein mitreißender, emotional tiefgründiger Roman gelungen, der einen als Leser lange nicht mehr loslässt. Die Wendungen, Irrungen und Schicksalsschläge in Laurits Biografie so extrem nah erlebbar zu machen, das macht die ebenso eigenwillige wie starke Stimme dieses gelungenen Debütromanes aus. Stets kreist Laurits und mit ihm der Roman um die Themen der Lüge, des Verrats, des Versuches, die Vergangenheit zu vergessen beziehungsweise zu verdrängen und immer wieder neue Anfänge zu wagen. 
Wie viel dabei jedoch von der Person Laurits übrig bleibt, nach so vielen Vertrauensbrüchen und Verlusten, ob es tatsächlich überhaupt möglich ist, all das hinter sich zu lassen, diese Fragen wirft Anne von Canal auf. Ein großartiges, kraftvolles Debüt.

Der Grund 
von Anne von Canal 
2014 mareverlag 
ISBN 978-3-86648-196-1
 
Interesse? Hier geht es direkt zum Buch auf der Verlagsseite, auf der ihr auch ein Video findet, in dem die Autorin aus ihrem Roman liest:

Ab März 2016 bei Rowohlt auch als Taschenbuch erhältlich:

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