Schleichender Schrecken: Das Gift

 
Amanda macht mit ihrer Tochter Nina Urlaub in einem kleinen, abgelegenen südamerikanischen Dorf auf dem Land. Ihr Mann ist noch in der Stadt, doch Amanda hat sich bereits mit der schönen Nachbarin Carla angefreundet. Carla erzählt ihr von ihrem Sohn David, vor dem sie sich fürchtet. Seit er sich verändert hat, seit dem Fieber, ist er nicht mehr ihr Sohn, nicht wirklich. Aber wie Amanda, liebt sie ihr Kind abgöttisch und hat versucht, ihn um jeden Preis zu beschützen. Doch sie kann trotz ihrer Vorsicht nicht verhindern, dass David sich vergiftet; er ist dem Tod näher als dem Leben. In ihrer Verzweiflung entscheidet sich Carla für einen drastischen Schritt und bittet die Heilerin des Dorfes um Hilfe. Sie kann David retten - aber zu welchem Preis? Amanda widerfährt ähnliches in dem kleinen Dorf, das ihr immer unheimlicher wird. Im Fieberwahn spricht sie mit David, versucht ihre Schritte nachzuvollziehen, den Würmern und dem Gift auf die Spur zu kommen.

"Sie sind wie Würmer. Was für Würmer? Wie Würmer, überall."

„Das Gift“ von Samantha Schweblin ist ein beunruhigender, soghafter Roman. Bedrückend nah und beängstigend lässt Schweblin die Grenzen zwischen Realität, Fiebertraum und magischem Aberglaube verschwimmen. „Das Gift“ liest sich wie der wahr gewordene Alptraum einer übervorsorglichen Mutter, die ihr Kind nicht zu retten in der Lage ist. 
Amanda erzählt David retrospektiv die Geschehnisse des Romans, ihr Dialog, immer wieder unterbrochen von Fieber, Vergessen und Wiederholungen, bildet die Rahmenhandlung. Mit Davids Hilfe versucht die fiebernde Amanda herauszufinden, wann exakt die Würmer geboren wurden. Würmer - so nennt er den Anfangszustand, den Beginn der Krankheit, des Fluchs, der das kleine, agrarische Dorf heimsucht. Einen Fluch, der Tiere wie Kinder gleichermaßen hinwegrafft oder sie schon vor ihrer Geburt beeinträchtigt. Ein Gift, das überall ist, dem die Dorfbewohner nicht entrinnen können - allgegenwärtig, unsichtbar hinterlässt es seinen blutigen Fingerabdruck. 
Die Heilerin des Dorfes tut ihr Bestes, um die betroffenen Kinder zu retten, aber auch sie kann den Einfluss des Giftes nicht völlig ungeschehen machen. Die magische Rettung hat einen Preis. David ist das beste Beispiel hierfür: Seit seiner Heilung ist er anders, manische Verhaltensweisen sind anstelle von kindlicher Freude und spielerischem Spaß getreten, ernst ist er, still und morbide. Seiner Mutter Carla ist er unheimlich, sein Vater meidet ihn; und doch ist David der einzige, der wirklich weiß, was im Dorf vor sich geht. Derjenige, der versucht, Amanda zur Seite zu stehen, ihr Antworten zu geben. Wenn er ihr schon nicht helfen kann. 
Stück für Stück kommt der Leser gemeinsam mit Amanda und David dem Fluch des Dorfes, dem Ursprung der Würmer auf die Spur. Übernatürliches hat seine Hände dabei ebenso im Spiel wie von Menschen gemachtes Unheil. 
Amanda, die ihre Tochter so übervorsorglich liebt wie auch Carla einst ihren David, fragt immer wieder nach ihrer Nina. Nina, von der sie immer und zu jeder Zeit wissen muss, wo sie sich aufhält, die sie um keinen Preis verlieren kann. David aber will davon nichts hören, es geht um die Würmer und nur um sie. Amanda soll verstehen … 
Ein ebenso schauerlicher wie bedrückender Roman, dessen schleichendes Grauen nicht ausschließlich von den fantastischen Elementen herrührt, sondern viel mehr von der schrecklichsten, unangenehmsten Wahrheit, der grausamen Realität, welche sich hinter all dem Aberglauben versteckt hält. Ein schleichendes Gift, tödlich, erbarmungslos verändert die Menschen in dem kleinen Dorf, hält sie gefangen im kalten Hauch ihrer Verzweiflung und Ohnmacht, blind für die wahren Gründe ihres Leidens. Ein kritischer Roman von filmischer, entlarvender Anmut.

Das Gift (orig. Distancia de rescate) 
von Samantha Schweblin 
2015 Suhrkamp Verlag 
ISBN 978-3-518-42503-9
 
Interesse? Hier geht es direkt zum Buch auf der Verlagsseite (dort findet ihr auch einen sehr schauerlichen Buchtrailer):
 

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