Schmerzhafte Trauer und verdrängte Schuld: Nie mehr Nacht
Der Zeichner Markus Lee hat erst vor kurzem seine Schwester Ira
verloren, als er von einem befreundeten Herausgeber eines Kunstmagazins den
Auftrag bekommt, in der Normandie Brücken zu zeichnen. Er soll Portraits jener
Brücken mit dem Bleistift einfangen, welche 1944 strategisch wichtig für die
Landung der Alliierten waren. Das trifft sich gut, denn auch Iras
fünfzehnjähriger Sohn Jesse will in den Herbstferien in die Normandie: Die
Familie seines Freundes Niels hütet dort ein verlassenes Hotel.
Schweigend machen sich die beiden auf den Weg in die Normandie, Iras
Tod wiegt schwer auf ihnen. Angekommen im Hotel L’Angleterre wendet sich Jesse
sofort Niels und dessen Familie zu, während Markus die ersten Brücken aufsucht.
Doch je mehr er sich mit den Brücken befasst, desto weniger sieht er sich in
der Lage, sie überhaupt auf Papier zu bannen, ihnen gerecht zu werden. Er
verliert mehr und mehr an Halt - und immer ist er in Gedanken bei Ira, die depressiv,
verloren und schließlich dem Leben nicht mehr gewachsen, den Selbstmord wählte.
Aber wie soll Markus ohne sie weiter leben?
"Wir können diese Dunkelheit nicht länger ertragen und wollen es
auch nicht.
Wir ziehen einen Schlussstrich. Die Nacht
ist vorbei, jetzt ist Tag."
Mirko Bonnés für die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2013
nominierter Roman „Nie mehr Nacht“ erzählt in fließend soghafter Prosa vom
Verlust eines geliebten Menschen und der abgründigen Trauer um eine, die so
viel mehr war als nur eine Schwester.
Subtil und mit großem schriftstellerischem Können verwebt Bonné seine
Geschichte mit der historischen und menschlichen Tragik der unzähligen toten
Soldaten, die ihr Leben für die Befreiung gaben. Das Ausmaß der
unbeschreiblichen Trauer, der wortlosen Leere, die Ira durch ihren Selbstmord
in Markus Leben hinterlassen hat, entfaltet sich, wie die Handlung selbst, sehr
langsam. Behutsam taucht der Leser in Markus Gedankenwelt ein, aus dessen Sicht
der scheinbar harmlose Arbeitsurlaub in die Normandie geschildert wird. Hinter
der kalten, distanzierten Oberfläche des freiberuflichen Zeichners, welcher zum
Hohn seiner Familie nicht einmal sein Kunststudium beendet hat (seine Eltern
nennen ihn ihren „Kritzler“), schlummert großer Schmerz und verdrängte Schuld.
Denn jahrelang hat Markus Iras psychologischen Verfall, ihr Abrutschen in
irrationale Ängste, Depression, Verzweiflung und Manien beobachtet. Der Wandel
von der wissbegierigen, aufgeschlossenen Ira, die durch die ganze Welt reiste
und in kürzester Zeit neue Sprachen lernte, nur um dann wieder in einem anderen
Land von vorn zu beginnen, endete mit Jesses Geburt. Beschränkt auf ein
kleines, häusliches Umfeld war es Ira nicht mehr möglich, vor ihren Ängsten
davonzulaufen und diese durch obsessives Lernen von neuen Sprachen und das
Leben in neuen Kulturen zu kompensieren. Jesse litt schwer unter ihren
psychischen Schwankungen, häufig war er bei einer Pflegefamilie untergebracht,
der Suizid seiner Mutter trifft ihn dennoch unvorbereitet. Wirklich leidet aber
Markus, Iras Bruder. Er ist unfähig, mit ihrem Tod abzuschließen, kann nicht
damit umgehen, dass sie nicht mehr da ist. Ihn verlassen hat.
Den Auftrag in der Normandie will er zuerst gar nicht annehmen, aber
schließlich lässt ihn die Idee nicht mehr los. Außerdem wollte Jesse ohnehin in
die Normandie zu seinem besten Freund Niels und dessen Familie. Ein Glücksfall,
wie es scheint. Doch Neffe und Onkel haben ganz verschiedene Mechanismen
entwickelt, mit Iras Tod umzugehen. Während Jesse mit seinem Leben weitermacht,
sich Neuem zuwendet, sucht und findet Markus in allem nur Ira. Verzweiflung
packt auch ihn. Er kann seinen Job nicht erfüllen, kann die Brücken nicht
zeichnen, kann all das Elend, den Tod und den grausamen Verlust nicht
einfangen. Er will es auch nicht. Immer stärker verliert er sich in seinen schmerzhaften
Erinnerungen an Ira, in der soghaften Leere, die sie mit ihrem Selbstmord in
seinem Leben hinterlassen hat und die nun beginnt, alles in seinem Leben wie
ein schwarzes Loch in sich aufzusaugen.
Dass er auf einem Photo in einem Supermarkt eine Frau entdeckt, die
Ira bis aufs letzte Haar gleicht ohne Ira zu sein, lässt sie ihn ein weiteres
Mal verlieren. Vielleicht aber birgt dieser Zufall auch den Ausweg aus Markus
Selbstkasteiung und trauernde Fixierung auf seine unglückliche Schwester.
Neben den sich spiegelnden Handlungssträngen von Markus und der
Landung der Alliierten in der Normandie, lässt Mirko Bonné ebenso literarische
und mythologische Stoffe einfließen. So zitiert Markus selbst Gottfried Kellers
„Der grüne Heinrich“ als sein Lieblingsbuch, welches ihn zutiefst beeinflusst -
so sehr, dass er bisweilen dessen Geschehnisse in seinem eigenen Leben nachlebt.
Auch die griechische Mythologie findet man in „Nie mehr Nacht“, denn Markus Weg
der Trauer um seine Schwester Ira gleicht Orpheus vergeblicher Suche nach
seiner auf ewig verlorenen Eurydike. Wie Orpheus muss auch Markus erst in die
Tiefen des Hades hinabsteigen, bevor er wieder ins Leben zurückfinden kann.
Hinreißend schöne, poetische Literatur in psychologisch erschütternder
Prosa schenkt uns Mirko Bonné mit seinem völlig zu Recht hochgelobten Roman
„Nie mehr Nacht“.
Nie mehr Nacht
von Mirko Bonné
2015 Fischer Taschenbuch
ISBN 978-3-596-03057-6
Interesse? Hier geht es direkt zum Buch auf der Verlagsseite:
Oder doch lieber als schöne gebundene Ausgabe von Schöffling & Co.
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