Die Miniatur einer epischen Liebesgeschichte: Bonsai
Zwei junge chilenische Studenten, Julio und Emilia, noch ganz am
Beginn ihres Lebens stehend, verlieben sich ineinander. Es beginnt bei einer
Lerngruppe, die in eine Party ausartet, die wiederum in Emilias und Julios
erster gemeinsamer Nacht endet. Auf diese eine Nacht folgt eine weitere und
noch eine …
Doch was so harmlos und harmonisch erscheint, beinhaltet schon von
Beginn an den Schatten der Lüge. Eine winzige, unbedeutende Lüge, sollte man
meinen. Beide geben vor, Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen
Zeit“ gelesen zu haben und dadurch eine lebensverändernde Leseerfahrung gemacht
zu haben. Doch wie jeder weiß, haben kleine Lügen die Angewohnheit, weitere und
immer größere nach sich zu ziehen. Langsam entfremden sich die Liebenden.
Emilia zieht schließlich ganz weg, nach Madrid, lebt ihr Leben weiter,
exzessiv und destruktiv. Julio jedoch bleibt zurück, nicht nur in Chile, auch
emotional gefangen in seiner unerfüllten Sehnsucht nach Emilia.
Winzig ist diese Roman-Miniatur, reduziert auf das Allernötigste, doch
dabei so inhaltsvoll wie es kaum ein tausendseitiger Wälzer sein könnte.
In dieser enorm komprimierten Form lesen wir eine allzeit gültige, zum
Scheitern verurteilte Liebesgeschichte. Julio und Emilia könnten auch anders
heißen, könnten jeder von uns sein oder niemand. So allgemeingültig ist ihre
tragische Geschichte, ist der Verfall und das Wegdriften ihrer Liebe.
Unterhaltsam und oft sehr humorvoll schildert Alejandro Zambra Emilias
und Julios Versuche, ihre Beziehung durch das Lesen von Lektüren (auch Proust
ist dabei - und, man kann sich als Leser kaum zurückhalten vor Lachen, Julio geht
sogar so weit, zu sagen, „er habe jetzt erst das Gefühl, Proust wirklich zu
lesen“ …) zusammenzuhalten. Doch die Lektüren sind von Beginn an der Sargnagel
ihrer Beziehung.
Die zweite, in Wahrheit jedoch für beide erste Lektüre Prousts
markiert das endgültige Ende einer Beziehung, welche Julio sein Leben lang
gefangen halten und nie mehr loslassen sollte. Verzweifelt stürzt er sich in
eine unbefriedigende Affäre zu seiner Nachbarin, doch auch diese Beziehung
sollte nicht halten. Emilia fällt es da leichter, ihr Leben weiterzuleben. Doch auch sie
bricht nach einer unabsichtlich komischen, ihre langjährige Freundschaft zu
Anita zerstörenden Lüge, die Brücken hinter sich ab und beginnt ein neues,
kurzlebiges, selbstzerstörerisches Leben in Madrid, welches in ihrem frühen Tod
gipfeln sollte.
Emilia und Julio, beide liebten sich und strebten sie nach
Gemeinsamkeit, zerstörten und verhinderten jedoch ebenjenes durch ihre Lügen
und Geheimnisse.
Alejandro Zambra schreibt nicht nur einen Roman über eine epische
Liebesgeschichte, unnachahmlich in seiner sprachlichen Reduktion und
Gewandtheit, er schreibt auch über die zerstörerische Kraft der Lügen.
Jede Möglichkeit, welche Julio in seinem Leben bekommt, verwirkt er
sich sogleich durch eine Lüge, eine unnötige Lüge zumeist und auch Emilia zerstört
vieles Gute in ihrem Leben durch Unaufrichtigkeit und Selbstverleugnung.
Der Titel „Bonsai“ verweist einerseits auf die enorm komprimierte Form
des Romans selbst, andererseits ist es eine Anspielung auf eine der Lektüren,
welche Emilia und Julio auseinanderbringen. Symbolisch steht der Bonsai für die
zarte Pflanze der Liebe, die gehegt und gepflegt werden muss, doch bei
den beiden Protagonisten schließlich an Vernachlässigung und Lügen erstickt.
Julio selbst wird den Titel auch aufgreifen, um in einem verzweifelten
Vertuschungsversuch einer seiner Lügen gerecht zu werden.
Große Literatur ist „Bonsai“ ob der Fähigkeit des Autors, solch eine
epische Handlung in so wenige Zeilen und Seiten zu verpacken, ohne dem Leser
das Gefühl zu vermitteln, er habe wesentliche Teile der Handlung verpasst.
Reduktion ist eine Kunst, die gelernt sein will. Erfrischend ist die Lektüre
für all jene, welche wie ich oftmals das Gefühl haben, im Mainstreambrei der
Literatur von unbedeutenden Nebensätzen und abschweifenden, unnötigen Passagen
eingeschläfert zu werden. Alejandro Zambra beweist, dass große Literatur und
schriftstellerisches Können nichts mit dem Umfang oder der Seitenanzahl zu tun
haben.
Bonsai (orig. Bonsái)
von Alejandro Zambra
2015 Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-42480-3
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