Entmenschlichung versus Emotion: Planet Magnon
Ein anderes Sonnensystem, vielleicht in einer nahen Zukunft. Hier
leben die Menschen auf fünf Planeten, die in engem Kontakt und Austausch
stehen. Seit etwas weniger als einem halben Jahrhundert wird alles in diesem
Sonnensystem durch ein anpassungsfähiges, auf die Wünsche der dort lebenden
Menschen abgestimmtes Computersystem namens AS (ActualSanity) reguliert.
Die Mehrheit der Menschen hat sich in Kollektiven mit variierenden
postpragmatischen Wertesystemen zusammengeschlossen, ein kleiner Rest bleibt
kollektivlos.
Marten Eliot ist gemeinsam mit Emma Glendale, einem früheren Schwarm
seinerseits, Spitzenfellow eines der größten Kollektive, der Dolfins. Gemeinsam
sollen sie das Kollektiv vertreten und neue Mitglieder durch Vorträge und
Kampagnen anwerben. Die Zeiten sind jedoch unruhig geworden, ein neues,
potentiell gefährliches Kollektiv, das Kollektiv der Gebrochenen Herzen,
genannt Hank, macht mit einschüchternden Anschlägen auf sich aufmerksam. Während
Marten immer stärker an sich selbst, den Dolfins und der AS zweifelt, breiten
die Hanks ihr Einflussgebiet stetig aus. Angeführt von einem mysteriösen
Mädchen mit einer Tigermaske fordern sie Aufmerksamkeit für ihren Schmerz und
ihre Verzweiflung für die sie die anderen Kollektive und ActualSanity
verantwortlich machen.
Marten versucht indes herauszufinden, wo sein Platz in all dem liegt.
Man kann Leif Randts mitreißenden Roman „Planet Magnon“ durchaus als
reine Sci-Fi lesen, es würde einem jedoch sehr viel entgehen, da er seinen
Lesern zudem ein ausgesprochen vielschichtiges Gesellschaftsportrait liefert,
welche der unseren gar nicht so fern ist, wie es erscheinen mag. Diese
Gesellschaft, geleitet durch eine künstliche Intelligenz, die stetig auf Grund
von Erhebungen unter der Bevölkerung des Sonnensystems ihre Regelungen exakter
den Bedürfnissen derselben anpasst, unterscheidet sich dabei - abgesehen vom
Setting des Plots und den technologischen Errungenschaften - nicht grundlegend
von der unsrigen.
Die Kollektive vertreten verschiedene Geisteshaltungen und
Weltansichten, die sich auch in unserer Zeit schon voneinander differenzieren,
ihre Organisation und ihr Einfluss ist dabei bemerkenswert. Schon im
Kindesalter werden Bewerber angeworben, um so bald als möglich im Sinne des
Kollektivs erzogen und geformt zu werden. Im Falle der Dolfins bedeutet dies
eine elitäre Zurückhaltung der Umgangsformen, dennoch Offenheit gegenüber allen
Neuerungen und anderen Kollektiven und diverse Praktiken der
PostPragmaticJoy-Theorie. Ihre Offenheit geht dabei so weit, dass die Dolfins
sich in den vergangenen Jahrzehnten jegliche neuen, ihnen sinnvoll
erscheinenden Strömungen einverleibt haben, was mehr als nur an Opportunismus
grenzt. Das angestrebte Ziel ihrer Bewegung ist der „völlig frei schwebende[n],
souverän tastende[n] Postpragmatiker“ - der ultimative Opportunist also, ohne
klares Profil, völlig frei von eigenen Werten. Marten, dessen Namen wir erst recht spät erfahren, wird als solcher
von seinem Kollektiv gehandelt. Er selbst empfand und empfindet es jedoch immer
als Mangel, sich nicht spezifiziert zu haben und noch nicht in der Lage gewesen
zu sein, einen eigenen Eintrag für den Almanach der Dolfins verfasst zu haben.
Im Verlauf der Handlung zweifelt er immer stärker an sich und hadert mit seiner
eigenen Unzulänglichkeit wie der der AS, welche das Verhalten der Hanks zu
dulden scheint und auch sonst fragwürdige Entscheidungen trifft.
Auf dem mittlerweile unbewohnbaren Müllplanet Toadstool werden
beispielsweise extra dafür ausgeloste Sonnensystembewohner geschickt, um dort
die Müllsortierung und -verwertung für einen gewissen Zeitraum vorzunehmen, scheinbar
zum Wohl aller - andererseits kann es durchaus auch als eine persönliche
Katastophe und Bestrafung angesehen werden.
Aus diesen entweder hierdurch, durch die Ablehnung bei den
Kollektivaufnahmeverfahren oder durch persönliche Zurückweisung auf dem Gebiet
der Liebe Enttäuschte werden zum Sammelbecken, aus welchem das Mädchen mit der
Tigermaske ihre Anhänger schöpft. Mit drastischen Anschlägen voller
zerstörerischer Gewalt machen sie auf verschiedenen Planeten auf sich
aufmerksam, ein medienwirksames Interview und omnipräsente, depressiv-tragische
Liebesbriefe enttäuschter Gebrochener Herzen fluten daraufhin das Sonnensystem,
in welchem Beziehung in den meisten Kollektiven als etwas Temporäres, nicht
Bindendes angesehen werden. Den Hanks begegnet man daher mit Unverständnis, da
es als nicht sinnvoll oder zielführend angesehen wird, sich bereits in jungen
Jahren an nur eine Person zu binden - das bleibt den älteren Generationen
vorbehalten. Auch Marten verfährt nach diesem aufoktroyierten Schema, obgleich
er sich stets nach Emma sehnt. Die Verleugnung dessen ist jedoch zu groß, als
dass er sich das eingestehen könnte.
„Planet Magnon“ ist eine ebenso fesselnde wie beängstigende
Zukunftsvision, welche jedoch das Fünkchen Hoffnung nicht ermangelt. Denn auch
in dieser bis zum Opportunismus und der Erstarrung rational postpragmatisch
geprägten Gesellschaft gibt es doch jene, welche sich abgrenzen, gegen die
Ungerechtigkeit aufbegehren und Ehrlichkeit für sich und ihre Emotionen einfordern
- die Menschheit ist daher auch in einer Zeit der entmenschlichten,
emotionslosen Technisierung nicht gänzlich verloren. Es geht in Leif Randts
Roman um persönliches und gesellschaftliches Scheitern, das endlich eine
Reaktion in den starr und taub gewordenen Kollektivanhängern hervorruft.
Sci-Fi ist sonst nicht wirklich mein Genre, das muss ich zugeben, Leif
Randt weiß mit phlegmatischer, vor Unterkühlung strotzender Prosa jedoch von
sich und seinem gelungenen Zukunftsentwurf zu überzeugen. Das angehängte
Glossar ist ein netter Zusatz, den der großartige Roman jedoch kaum benötigt.
Zuletzt muss die außergewöhnlich liebevolle Gestaltung noch Erwähnung
finden: Schwarzes Leinen, geprägt mit kupferfarbenen Lettern, diese
Farbsymbolik setzt sich erfreulicherweise auf den wundervollen Vorsatzpapieren
fort und lässt das Herz eines jeden Bibliophilen höher schlagen.
Planet Magnon
von Leif Randt
2015 Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-04720-2
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