Unheilvolle, rohe Emotion: Isabel & Rocco
Isabel und Rocco sind unzertrennlich. Zwei Geschwister, die die Welt
um sie herum und damit auch die eigenen Eltern als Eindringlinge in ihr perfektes,
kleines Universum erleben. Ein Leben ohne Rocco - unvorstellbar für Isabel.
Zusammen schaffen sie sich ihre eigene, lebenswerte Realität in der
undurchdringlichen Abgeschiedenheit ihrer gemeinsamen Dachkammer. Je älter sie werden, desto mehr distanzieren sie sich von ihren
Eltern, deren Ehe nur noch aus Streit und der Krankheit des Vaters zu bestehen
scheint. Den Eltern bleiben ihre beiden wilden Kinder immer fremd: Der
aufrührerische Rocco, dessen Blick allein die Mutter schon aus dem Konzept
bringt und der immer nur Ärger macht und die stille Isabel, welche sich immer
auf die Seite ihres Bruders schlägt. Als die Eltern mehr und mehr von ihren
eigenen Problemen eingenommen werden, überlassen sie die beiden Teenager zunehmend
sich selbst. In Rocco und Isabels selbstgestalteter Welt voll kindlicher Träume
und naivem Verhalten ist auch kein Platz für die harte Realität. Die beiden klammern sich immer stärker aneinander, vor allem nachdem
die Eltern ohne ein Wort von einem Tag auf den anderen verreisen. Komplett auf
sich zurückgeworfen, rutschen Isabel und Rocco immer mehr in die Grauzonen des
Lebens ab, wo Richtig und Falsch nicht mehr eindeutig zu unterscheiden sind.
Anna Stothards bestürzend emotionaler Debütroman „Isabel & Rocco“
ist geprägt von einer sprachlichen Rohheit und Wucht, welche man selten in
solch geballter wie kunstvoller Form vor sich findet.
Isabel ist die Chronistin und Ich-Erzählerin ihrer Geschichte und der
ihres unnahbaren Bruders. Retrospektiv schreibt sie über ihre
lebensverändernden Erlebnisse seit dem Tag, an welchem ihre Eltern sie
kurzerhand und ohne weitere Meldung zurückgelassen haben. Immer wieder nimmt
sie dabei Bezug auf prägende Ereignisse und zentrale Erinnerungen aus ihrer
Kindheit, die sie und ihren Bruder gegen die verständnislosen Eltern
zusammengeschweißt haben. Roh und träumerisch, dabei immer ein klein wenig kindisch, bleibt
Isabel dabei in ihrer eigenen Vorstellungswelt zwischen Kindheit und
Erwachsenenalter gefangen. Nichts wäre schlimmer für sie, als erwachsen zu werden
(außer natürlich, ohne Rocco leben zu müssen), so vertrocknet wie ihre Mutter
und ihr Vater, welcher in den letzten Jahren vor ihrem Augen dahingeschwunden
ist - und mit ihm die Fröhlichkeit und die Freude in der Familie. Zu seinen
sich häufenden Krankheiten, für deren wahre Ursache Isabel blind bleibt, kommen
dann auch nach und nach Geldsorgen, denn der Antiquitätenladen wirft nicht
genug ab, Rechnungen müssen bezahlt werden. Streit, Schweigen und lautloser
Verfall machen sich breit und verhärten die Fronten zwischen Eltern und Kindern
nur noch mehr. Der Weggang trifft Isabel dennoch völlig unvorbereitet, sie hofft
stets auf eine Nachricht, irgendwas - aber als die Eltern schließlich das Haus
verkaufen, ohne ihr und Rocco Bescheid zu geben, ist der Verrat offensichtlich und
sie kann sich nicht mehr einreden, dass dieses Gefühl, das sie für ihre Eltern
hegt, etwas anderes als blanker Hass ist. Dass nebenbei ihre erste Beziehung mit Jackson einen mehr als
ungünstigen Verlauf nimmt, gereicht der fragilen Gesamtsituation der
Geschwister nicht zum Vorteil. Als dieser sie verlässt, obwohl sie mit ihm
geschlafen hat und in der Schule auch noch verbreitet, sie und Rocco hätten ein
inzestuöses Verhältnis, zieht sich Isabel langsam auch von diesem Stück
Realität zurück. Sie war ohnehin immer eine Außenseiterin in der Schule, durch
Jacksons Verleumdungen und Lügen vergeht ihr das letzte Fünkchen Sinn, welches
sie im Schulbesuch sieht. Doch damit nimmt die furiose Abwärtsspirale, in der sich Isabel und
Rocco befinden, noch lange kein Ende.
„Isabel und Rocco“ ist ein wuchtiges, emotional vielschichtiges Debüt,
abgründig bis in die letzte Zeile. Isabel und Roccos Gedankenwelt zieht einen
als Leser in ihren hypnotischen Bann, die sexuelle Spannung zwischen den
einzelnen Figuren ist beinahe greifbar. Anna Stothard gelingt es, die selbstzerstörerische Eigendynamik dieser
auf sich allein gestellten Geschwisterbeziehung glaubhaft und deshalb umso
erschreckender in ihrer naiven Rohheit darzustellen. Den langsamen Verfall, sowie
die stetige Abwärtsspirale hin zu immer stärkerer Abkapselung von ihrer Umwelt
und der Realität bis hin zur eigenen, graustufigen Moral ihres kleinen Kosmos
so suggestiv und mitreißend durch Isabels Stimme zu schildern setzt großes
literarisches Können voraus.
Isabel & Rocco (orig. Isabel and Rocco)
von Anna Stothard
2014 Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-30027-7
Interesse? Hier geht es direkt zum Buch auf der Verlagsseite:
Das englische Original ist leider nur noch antiquarisch erhältlich.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen