Macht und Grausamkeit statt Regenbögen und Freiheit: Dorothy Must Die


Amy Gumm lebt mit ihrer Mutter in einer kleinen trostlosen Stadt in Kansas, in Dusty Acres, doch selbst an diesem abgelegenen, öden Fleckchen Erde, ist sie eine Außenseiterin, weil sie im Trailerpark leben. Von den anderen Kindern verachtet und gemieden, fristet Amy ihre Zeit damit, sich um ihre pillensüchtige Mutter zu kümmern, die Amys Anstrengungen nicht zu schätzen weiß, sie im Gegenteil nur loswerden will und beleidigt. So ist es auch an dem Tag, an dem ein Tornado für ihre Region angesagt wird. Von der Mutter allein mit deren Hausratte Star zurückgelassen, überlegt Amy einmal mehr, ob sie nicht einfach ausreißen soll - doch der nahende Tornado nimmt ihr diese Entscheidung ab, als er ihren Wohnwagen mit sich reißt. Amy kommt mit Star im Wohnwagen an einem Abgrund zu sich und kann sich nur mit der Hilfe eines grünäugigen Jungen, der sich Pete nennt, knapp vor dem Absturz retten. Doch wo ist sie gelandet? In die Ferne schlängelt sich ein Weg aus gelben Ziegelsteinen. Alles andere in Sichtweite wirkt hingegen farblos, wenn nicht leicht bläulich, mehr als trostlos und irgendwie sterbend. Kann das Oz sein? Aber wo sind die Regenbogen geblieben? Etwas scheint ziemlich schief gelaufen zu sein, seit Dorothy Oz mit ihren schimmernden magischen Pumps verlassen hat. Doch ist Dorothy wirklich nicht mehr in Oz? Oder ist sie es, die Oz so dramatisch verändert hat?

Wow, um die Handlung eines Kinderbuchs, das schon zu den Klassikern zählt, so modern und dabei dennoch glaubhaft weiterzuspinnen - dazu braucht man wirkliches Talent. Davon hat Danielle Paige eine ganze Menge, wie sie in ihrem rasanten Debütroman „Dorothy Must Die“ beweist. Ein Fantasyroman, gespickt mit actionreichen Sequenzen ebenso wie mit absolut niederschmetternden Schilderungen von Dorothys Terrorherrschaft über Oz. 
Denn aus der niedlichen, kleinen Dorothy ist eine kontrollsüchtige, sadistische Despotin geworden, die von Magie nicht genug bekommen kann und Oz und seine Bewohner um jene beraubt. Kansas war dann wohl doch nicht das Höchste der Gefühle. Schon sehr bald nach ihrer Abreise aus Oz kehrte sie zurück, freundete sich mit der neuen legitimen Herrscherin Ozma an, bis diese sie zur Prinzessin machte. Von da an verschwand Ozma immer mehr aus der Öffentlichkeit und wurde auch in Herrschaftsfragen komplett durch Dorothy ersetzt - und Dorothy hatte große Pläne für IHR Oz, die es zu verwirklichen galt. Mit Hilfe ihrer ehemaligen Gefährten, dem Blechmann, dem nicht mehr so feigen Löwen, der Vogelscheuche und auch der bis dato „guten“ Hexe des Südens Glinda, beginnt Dorothy ihre despotischen Träume an Oz und seinen Bewohnern auszuleben. Munchkins graben sklavenähnlich nach Magie, die Dorothy dann hortet, um ihre Macht zu sichern (und ihre Schönheit zu erhalten); der Löwe überfällt Dörfer im ganzen Land, um seinen Hunger nach Fleisch und Furcht zu stillen; der Blechmann führt alle Grausamkeiten mit seiner Geheimpolizei auf Befehl Dorothys aus, während die geniale Vogelscheuche abstoßende Experimente mit allen Ureinwohnern von Oz durchführt - das kann einem in Dorothys Oz aber auch als Disziplinarmaßnahme passieren, sollte man seine Königliche Hoheit, die noch immer ausschließlich blaukarierte Kleidung trägt, verärgern. Sie zu verärgern ist dagegen recht leicht, Dorothy verbreitet überall Angst und Schrecken. Mangelnde Fröhlichkeit, Aufmüpfigkeit und kleinste Fehler (etc.) werden grausamst bestraft - der Tod erscheint gnädig im Vergleich zu dem, was die Vogelscheuche in ihrem geheimen Labor mit den Verurteilten zu tun gedenkt. 
Amy stolpert nun ahnungslos in dieses komplett veränderte, kurz vor dem Ruin stehende Oz, das seiner Magie durch Dorothy und Glinda nahezu völlig beraubt ist. Ihre erste Begegnung mit Dorothy verläuft mehr als schlecht - eine Diva wie sie, erträgt es nicht, nicht mehr das einzige Mädchen aus Kansas zu sein, das per Tornado nach Oz transportiert wurde. Ganz knapp kann Amy mit Hilfe des Revolutionären Ordens der Bösen ihrer Verurteilung entgehen, doch nun ist sie an die „bösen“ Hexen gebunden. Amy soll ihnen helfen, Oz endlich von Dorothy und ihrer Schreckensherrschaft zu befreien, indem sie Dorothy tötet. Dieses einfache Attentatsschema erweist sich dann doch als etwas komplexer als erwartet, Amy gibt ihr bestes, doch kann sie ihren Gerechtigkeitssinn nicht ausschalten.
Dorothy muss sterben - doch zunächst gilt es, am Blechmann, der Vogelscheuche und dem Löwen vorbeizukommen (und nicht zu vergessen, an Dorothys magischen Pumps). And then „The Wicked Will Rise“! 
Eine absolut gelungene und atemberaubende Fortsetzung des Kinderklassikers! Dorothy und ihre Schergen sind dabei das eindeutige Beispiel dafür, wie sehr Macht (und daher auch Magie - ‚Magic is Might‘, hm?) korrumpiert. Ihre despotische Terrorherrschaft über Oz stürzt Land und Bewohner in Verzweiflung und verdreht die ehemals klaren Linien von Gut und Böse - denn wenn Dorothy gut ist und dabei so handelt, können nur die Wicked Witches gemeinsam mit Amy Oz retten. Dorothy ist einmal mehr der Beweis, dass eine Obsession für Pink und ekelerregend zuckersüße Liebenswürdigkeit mehr von wirklich abgrundtiefer Bosheit künden, als eine unansehnliche Warze oder ein staubiger Hexenhut. Wahre Dunkelheit und Düsternis verbirgt sich meist eher hinter einem blendend hellen Mantel der Freundlichkeit und Harmlosigkeit. Es ist phantastisch, dass ein Jugendbuch, bzw. eher ein All-Age Roman solch ein universelles bzw. moralisch und historisch relevantes Thema aufarbeitet, ohne dabei dröge oder übertrieben zu wirken. Die beste (Jugend-)Fantasy, die mir in der letzten Zeit untergekommen ist.

Dorothy Must Die 
von Danielle Paige 
2015 HarperCollins 
ISBN 978-0-06-228068-8
 
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