Modernes Märchen ganz in Gold: Blaubart
Saturnine, eine
junge Belgiern, die in Paris am École du Louvre unterrichtet, ist auf der Suche
nach einer bezahlbaren Unterkunft in Paris. Durch eine
Anzeige stößt sie auf ein scheinbar unfassbares Angebot: ein großes Zimmer mit
Bad im VII. Arrondissement. Sie bezweifelt angesichts der zahlreichen auf ein
Vorsprechen beim Vermieter wartenden Frauen, dass sie eine Chance hat, das
Zimmer in einem solch prunkvollen Stadtpalais ergattern zu können.
Doch das Angebot
scheint einen nicht unmerklichen Makel zu besitzen, wie sie von einer der wartenden
Frauen erfährt. Alle acht vorherigen Mieterinnen sind bis zum heutigen Tag
spurlos verschwunden, der Vermieter selbst wird ihrer Morde bezichtigt. Nicht
wenige der Wartenden sind nur gekommen, um einen Blick auf diesen adligen
Serienmörder zu werfen.
Als Don Elemirio
Nibal y Milcar, besagter Vermieter und angeblicher Mörder, gerade ihr das
Zimmer anbietet, kann sie dem Luxus trotz aller Gerüchte nicht widerstehen -
und wie gefährlich kann ein verschrobener, in selbst auferlegter Klausur
lebender spanischer Adliger schon sein?
"Gold ist
die Substanz Gottes. Keine andere Nation hat so viel Sinn für das Gold
wie
Spanien. Das Gold verstehen heißt Spanien verstehen und damit mich verstehen.
Ich liebe Sie,
das ist eine Tatsache."
Amélie Nothomb
ist mit „Blaubart“ eine gelungene Neuinterpretation des klassischen
Märchenstoffes gelungen. Voller Witz und Sarkasmus lässt sie eine moderne,
selbstständige und emanzipierte Frau auf den charismatischen Frauenmörder
treffen, der daraus entstehende rhetorische Schlagabtausch zwischen
unbezahlbarem Champagner und diversen Eiergerichten könnte nicht skurriler und
schauerlicher sein.
Saturnine, jung,
schön und eigenwillig, nimmt das Angebot Don Elemirios gerne an, denn sie kann
nicht länger auf dem Sofa ihrer Freundin in deren winzigem Appartement hausen
und in Paris eine andere bezahlbare Wohnung zu finden scheint nahezu undenkbar.
Der zweifelhafte Ruf ihres Vermieters hält sie kaum davon ab, zu sehr braucht
sie ein Zimmer. Nie zuvor stand ihr solcher Luxus zur Verfügung wie in Don
Elemirios Stadtpalais, in dem sie sich völlig frei bewegen darf. Es gibt nur
eine einzige Ausnahme: Das Betreten der Dunkelkammer ist verboten. Sollte sie
es dennoch tun, würde sie es bereuen, warnt sie Don Elemirio. Saturnine lässt
sich allerdings nicht so leicht in Versuchung führen wie ihre acht
Vorgängerinnen, die verschlossene Dunkelkammer interessiert sie wenig, ist ihr
doch klar, dass alle acht Frauen wegen der Übertretung von Don Elemirios Verbot
„verschwanden“. Ob sie tatsächlich tot sind, darüber ist sie sich noch nicht im
Klaren. Aber dass sie Don Elemirio für seine Taten verachtet, ist absolut unbestreitbar. Schon beim ersten
gemeinsamen Abendessen, bei welchem er sein kulinarisches Talent beweist,
gesteht ihr Don Elemirio seine unsterbliche Liebe - und fast zeitgleich, seine
Liebe für jede ihrer Vormieterinnen. Saturnine ist angewidert und versucht gar
nicht erst, ihre Abneigung zu verstecken. Dennoch bleibt Don Elemirio
fasziniert von ihr und überschüttet sie mit kostbarstem Champagner und anderem
Luxus. Mit jedem
Abendessen nähert sich Saturnine der Wahrheit um die verschwundenen
Vormieterinnen mehr, obgleich sie keinerlei Rechtfertigung von einem
verschrobenen Wahnsinnigen wie Don Elemirio hören will. Seit zwanzig Jahren
schon hat er sein Stadtpalais nicht mehr verlassen, die Untermiete bot ihm die
optimale Gelegenheit, Beziehungen zu Frauen zu knüpfen ohne anderweitig das
Haus zu verlassen. Stattdessen kultivierte er in seiner selbst auferlegten
Klausur seine Kochkünste, sein Talent als Näher und die Photographie.
Nichts liebt er
als streng gläubiger Katholik so sehr wie das Gold und alles, was dessen Farbe
trägt - und Saturnine verfällt ihm von Abendessen zu Abendessen trotz ihres
Abscheus, Misstrauens und der nicht zu leugnenden Gewissheit seiner Schuld.
„Blaubart“ von
Amélie Nothomb verleiht dem alten Märchenstoff eine moderne, sarkastische Note
und trumpft mit einer ganz eigenen, neuen Begründung für Blaubarts Morde auf.
Leichte, schnelle Dialoge und starke Prosa helfen dem Plot sich rasch zu
entfalten, der sich steigernde Einsatz der Farbsymbolik unterstreicht deren
Bedeutung und sorgt für ein Überraschungsmoment bei den Lesern, die mit der
Vorlage bekannt sind. Saturnine ist eine sehr moderne, aktive Heldin, welche -
im Gegensatz zu ihrem Vorbild in Charles Perraults Märchen - nicht mehr der
Rettung durch ihre Brüder bedarf, sondern intelligent und mutig genug ist, ihr
Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Eine köstliche Neuinterpretation!
Blaubart (orig. Barbe bleue)
von Amélie
Nothomb
2014 Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-24317-8
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