Schmerzhafte Verzweiflung und Trauer: Verlust


Charlie Crosby lebt mit seiner Frau Susan und seiner Tochter Kate ein bescheidenes Leben in der Kleinstadt Enon, in welcher er schon seit seiner Geburt gelebt hat, ganz wie seine Eltern und sein Großvater vor ihm. Anders als seine Frau hat er es akademisch und beruflich nie weit gebracht, er ist mit Leib und Seele Landschaftsgärtner und kümmert sich um verschiedene Gärten in Enon. Das Geld ist meist knapp, doch Charlie und seine kleine Familie sind glücklich. Seine Tochter Kate ist sein Augenstern, nichts liebt er mehr als sie. An einem gewöhnlichen Sommertag fährt Kate mit einer Freundin mit dem Fahrrad an den Strand, um dort den Tag zu verbringen. Vorsichtig sollte sie sein, hat Charlie ihr eingeschärft. Er selbst geht auf eine Wanderung in die Wälder, zu der er Kate eingeladen hatte. Doch Kate, schon fast vierzehn, wollte lieber mit ihrer besten Freundin etwas unternehmen und erst zum Abendessen wieder zurück sein. 
Charlie ist gerade auf dem Weg nach Hause, als ihn die Nachricht seiner Frau erreicht: Kate hatte einen tödlichen Autounfall. 
Von diesem Moment an driftet alles in Charlies Leben auseinander, verliert es an Bedeutung und Inhalt durch den Tod seiner Tochter.

"(...) was sollte ich dann sagen? Welches Wort, von mir in das vernichtende Schweigen hineingesprochen, würde alles verändern, würde Susan nach Enon zurückholen und Kate zu uns beiden zurückbringen?"

„Verlust“ von Paul Harding ist ein sehr starker, emotionaler Roman über die Trauer um einen geliebten Menschen. Durch lebendigste Metaphern und einfühlsame Beschreibungen versinkt der Leser gemeinsam mit Charlie in dessen Kummer, weigert er sich mit ihm, Kates Tod anzunehmen. 
Großartige Naturschilderungen von Charlies Wanderungen mit Kate wie seinem ziellosen Herumirren nach ihrem tragischen Tod wechseln sich mit Erinnerungen aus Charlies Kindheit, seiner viel zu kurzen Zeit mit Kate und mit Begebenheiten aus der Lokalgeschichte ab, welche Charlie schon immer faszinierten. 
Nach Kates Tod ist Charlie wie betäubt, er kann es einfach nicht fassen. Seine Hilflosigkeit macht sich in der ersten von vielen sinnlosen Gewaltakten Luft - er bricht sich die Hand, als er mit der Faust aus Verzweiflung ein Loch in die Wand zu schlagen versucht. Susan und er, einzig durch ihre Liebe zu Kate verbunden, driften unwiderruflich auseinander, Charlie erkennt das, doch anstatt Susan festzuhalten, bestärkt er sie darin, zu ihren Eltern zu fahren. Das Ende seiner Ehe, die Gewissheit, Susan nie wiederzusehen, treffen ihn nicht annähernd so hart wie der Verlust von Kate, seiner geliebten Kate, die gerade dabei gewesen war, langsam erwachsen zu werden, als sie so ungerecht und sinnlos aus dem Leben gerissen wurde. Aus seinem Leben, das ohne sie keinen Sinn mehr hat. Väter sollten ihre Töchter nicht überleben, denkt Charlie. Aber wie soll er es ertragen? Wie kann er weiterleben? Durch den Bruch der Hand, welche auch nachdem sie verheilt ist, nicht aufhört zu schmerzen, lässt er sich so oft es möglich ist, in der Ambulanz Schmerzmittel verschreiben. Nur um einschlafen zu können auf dem Sofa, auf dem er seit Kates Tod haust. Langsam beginnt eine soghafte Abwärtsspirale aus Betäubungsmitteln, Schmerztabletten, Whiskey, Erinnerungen an Kate und schließlich Drogen. Fast jede Nacht besucht er den Friedhof, auf dem Kates Asche begraben ist, aber mit zunehmender Verwahrlosung und drogenbedingter Bewusstlosigkeit schämt er sich, sich ihr in seinem Zustand zu zeigen. 
Charlie gelingt es immer schlechter, mit seinem Schicksal umzugehen, er hadert mit sich und der Welt und zieht sich in seinen Dämmerzustand aus drogenverschleiertem Schlaf, Erinnerungen an die geliebte Kate und immer stärker werdenden Halluzinationen zurück. Er schafft es nicht, um seine Tochter zu trauern, ihren Tod zu verwinden - stattdessen stürzt er sich kopfüber in sein Elend, um sich darin zu suhlen, ohne Aussicht darauf, je wieder herauszufinden und weiterzuleben. 
Ein unglaublich kraftvoller Roman, dessen wahre Stärke in Paul Hardings narrativem, imaginativem Schreibstil liegt. Scheinbar wahllos aneinandergereihte Episoden und Kapitel, mal Erinnerung, mal traurige Gegenwart, dann wieder Halluzination und Wunschtraum, vermitteln auf eindrucksvolle Weise Charlie Crosbys Leiden, seine Weigerung, sich mit dem Tod seiner Tochter abzufinden und seine Unfähigkeit, um sie zu trauern. 
Paul Harding, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Amerikas, wurde für seinen ersten Roman „Tinkers“, welcher von Charlie Crosbys Großvater handelt, mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Diese Fassungslosigkeit, Depression und Lebensverweigerung angesichts des Verlustes eines geliebten Menschen in solch einer Intensität und bittersüßen Verzweiflung darzustellen, erfordert großes schriftstellerisches Können. Meisterhaft gelingt es Paul Harding, das Unfassbare in Worte zu kleiden, ihm in Metaphern und Symbolen, Erinnerungen und visionären Drogenträumen Gestalt zu verleihen. „Verlust“ ist ein sprachlich und inhaltlich herausragender Roman über die Sterblichkeit und das Trauern, geschildert in berührender emotionaler Rohheit.

Verlust (orig. Enon) 
von Paul Harding 
2015 Luchterhand Literaturverlag 
ISBN 978-3-630-87377-0
 
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Im Englischen ist „Enon“ auch bereits in zwei Paperback-Ausgaben erhältlich:

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